7. Die Staatliche
Schauspielschule (1951)
7.5 Tradition im Wandel
Der Schritt in die Eigenständigkeit
erfolgte 1951 mit einem sehr unterschiedlich zusammengesetzten Lehrkörper - im Grunde ein bunt zusammengewürfeltes Häuflein Unentwegter, die kein gemeinsam zurückgelegter Weg vereinte, allenfalls die neu übernommene Verantwortung für den Nachwuchs. Aus der
Ära Reinhardt war niemand mehr dabei.
Gertrud Eysoldt war 1950 verstorben. Gerda Müller, die große Darstellerin, die
nach 1945 an der Schule wirkte, verstarb 1951.
Eduard von Winterstein, einst eine wichtige Stütze, nun 8Ojährig, unterrichtete
schon lange nicht mehr.
Otto Dierichs, der Direktor, hatte
von 1939 bis 1945 als Dozent an der Folkwangschule
in Essen Erfahrungen in der
Schauspielpädagogik gesammelt, war aber kein
Reinhardt-Schüler. Er kam aus der Düsseldorfer Dumont-Schule, (7.32) wo eine zelebral-weihevolle Schauspielkunst gepflegt worden war. Werner Kepich, Schauspieler bei Piscator, dann Mitglied des Schiller-Theaters, hatte in Berlin mit
seiner Frau Luise an einer eigenen kleinen Privatschule ausgebildet und mit den dort gewonnenen Erfahrungen nach 1945 das DEFA-Nachwuchsstudio geleitet. Friedel Nowack hatte 1919 privaten Schauspielunterricht genommen und war über
Wiesbaden, die Barnowsky-Bühnen, das Rosetheater und
nach Emigrationsjahren in Wien, Bern und
Zürich 1947 wieder nach Berlin gekommen. Dr. Heinz-Wolfgang Litten hatte in der
Emigration Stücke von Brecht inszeniert,
war nach 1945 kurzzeitig Direktor und Oberspielleiter der im
Colosseum in der Schönhauser Allee spielenden Volksbühne. (7.33)
Hanna Türcke war zwar 1935 Absolventin der
Schauspielschule des Deutschen Theaters
gewesen, aber nicht die Künstlerpersönlichkeit,
die stilprägend hätte wirken können. Nach jeweils eigenen, nicht in der
Reinhardt-Tradition stehenden Methoden
wirkten die Sprecherzieherin Luise Kepich-Overbeck und die
Stimmbildnerin Hildegard Hoppe-Klatt. Hildegard
Buchwald-Wegeleben, nun verantwortlich
für den Bewegungsunterricht, war noch eine Suchende. (7.34)
Werner Kepich, Lehrer für Schauspiel
Hilde Hoppe-Klatt, Lehrerin für Sprecherziehung
Friedel Nowack, Lehrerin für Schauspiel
Die reiche ästhetische wie auch die pädagogische Tradition der
Schule, das zeigte sich erst jetzt deutlich, war verschüttet, unter dem Einfluss der Nazis und schließlich im Feuer des Krieges verlorengegangen. Was war da neu zu beleben? Die Auffassung von Schauspielkunst? Die Ausbildungspraktiken? Die aktuellen Kunstdebatten
über Theater wurden nicht um das Vermächtnis Max Reinhardts (7.35) geführt, noch
gar über Ausbildungsmethoden.
In der Zeitschrift «Theater der Zeit»
polemisierte Fritz Erpenbeck gegen einen den
Holzhammer schwingenden «Energischen», der Schiller, Goethe und Shakespeare des Formalismus bezichtigte, weil sie
in Versen geschrieben hatten. Und er warnte davor, «daß jedermann das als
"Formalismus" abstempelt, was er sich nicht erklären kann, wenn es nicht ein fotografisch getreuer Abklatsch der Alltagswirklichkeit ist.» (7.36)
Doch nicht nur über Formalismus wurde debattiert. An den
Theatern war eine lebhafte Diskussion über Stanislawski im Gange. An
zahlreichen Bühnen bildeten sich sogenannte
Stanislawski-Zirkel. Und Ottofritz Gaillard offerierte in mehreren
Beiträgen in «Theater der Zeit» Erfahrungen aus dem „Stanislawski-Seminar“ am Deutschen Theaterinstitut in Weimar. (7.37) In dem
Artikel «Neue Schauspielerziehung» schrieb er: «Während es heute um Inhalte geht, nach deren Gestaltungsmitteln wir
suchen, mußte sich die spätbürgerliche
Kunsterziehung lediglich auf die Übermittlung fertiger Formen
beschränken, da das Verhältnis zum Inhalt
größtenteils ästhetisch geworden war. Wollte man versuchen, mit diesen fertigen Formen heute noch in der Schauspielkunst
auszukommen, so würde sich die Unfähigkeit ergeben, mit ihnen neue Inhalte zu bewältigen.» (7.38) Im Stanislawski-System sah Gaillard das «Zentrum einer künstlerisch-gesellschaftlichen Ausbildung,
in der die strenge Wahrheitsforderung der
künstlerischen Aussage gesellschaftlich verantwortliche Maßstäbe voraussetzt.» (7.39) Er forderte für Schauspielschulen voneinander und
miteinander lernende Lehrkollektive, wie das in Weimar entstandene.
Aber in Berlin vermochte sich vorerst keiner der
Pädagogen in Sachen Stanislawski führend zu exponieren, geschweige denn ein
miteinander lernendes Kollegium. So fehlte die überzeugend einigende
Orientierung. Man ließ die Dinge irgendwie an sich herankommen. Auch eine
Alternative zu Stanislawski bot sich vorerst nicht. Brechts «Mutter Courage und
ihre Kinder» erlebte zwar im September 1951 die hundertste Aufführung in
Berlin, aber die Auseinandersetzung um das epische Theater hatte die Schule
noch nicht erreicht. (7.40)
Auch für eine Wiederbelebung etwa des universellen
Umgangs Reinhardts mit der Klassik war die Zeit nicht reif. Reinhardts Wirken
wurde zwangsläufig — auch unter dem Einfluß Brechts, der das «kulinarische»
Theater attackierte - erst einmal sehr kritisch bewertet, noch 1969 zum
Beispiel als «Illudierung der Massen im Sinne einer totalen Täuschung durch das
Spiel. Die Menschen sollten in eine Welt des Scheins, der Träume und des Spiels
hineingezogen werden, damit sie abgelenkt würden von der materiellen und seelischen Not des Tages.» (7.41) Das
Progressive, Allgemeingültige des Reinhardtschen Vermächtnisses — «ein Theater,
das den Menschen... Freude gibt», (7.42) das sensibel die
ästhetische Eigenart jedes Kunstwerkes aus dem Geist des Dichters heraus zu
entdecken und theatralisch stil- und ausdrucksvoll wiederzugeben sucht - wurde
vorerst nicht erkannt. Und eine rein nostalgische Wiederbelebung wäre damals
wahrscheinlich lediglich als eine äußerliche Suche nach einst bewunderten
fertigen Formen empfunden worden.
Das zentrale Problem der künstlerischen Ausbildung
war –
gewollt oder nicht - mittlerweile sogar weniger das
Stanislawski-System, selbst wenn man es als neue Sicht auf Gesellschaft und
Theater begriff und nicht nur als Vermittlung von Handwerk. Das Problem war
vielmehr - auf eine nüchterne Formel gebracht: Die bürgerliche Psyche
interessierte nicht mehr, die proletarische aber musste erst noch erkundet
werden. Oder anders formuliert: Nicht mehr die Zerrissenheit und Einsamkeit des
spätbürgerlichen Individuums galt es, schauspielerisch zu spiegeln, sondern
nunmehr das proletarische in seinem dialektischen Zusammenhang mit der
Wirklichkeit, nämlich als das repräsentative Individuum der neuen Gesellschaft.
Neue, damals noch gar nicht erfasste Aufgaben für die Schauspielkunst! Die
Schauspielschule war in dieser Hinsicht abhängig von der allgemeinen
Theaterentwicklung in der Hauptstadt, «Schule» konnte sie nicht machen.
Externe Lehrkräfte für Schauspiel:
Mathilde Danegger
Walter Jupé Gerhard
Meyer
Steffie Spira Wolfgang E. Struck
Bewährte Schulpraktiken aus der Reinhardt-Zeit wurden
allerdings sehr konsequent beibehalten. Als grundlegend ist das
Ausbildungssystem im Hauptfach Schauspiel anzusehen. Der Schauspielunterricht
wurde - wie auch schon unmittelbar nach 1945 — nach wie vor in kleinen
Arbeitsgruppen mit verschiedenen Lehrkräften durchgeführt. Ein Turnus dauerte
etwa fünf bis sechs Wochen. Außer den hauptamtlichen Pädagogen arbeiteten Schauspieler
und Regisseure Berliner Theater, zum Beispiel Mathilde Danegger, Steffie Spira,
Hans-Robert Bortfeldt, Walter Jupé, Franz Kutschera, Gerhard Meyer und Wolfgang
E. Struck. Die Arbeitsergebnisse wurden in sogenannten «Vorspielen» vor den
Lehrern und den Studenten des jeweiligen Studienjahres vorgeführt, Gäste waren
nicht geladen. Die Vorspiele wurden ausgewertet. Dieses Szenenstudium-Prinzip
unterscheidet sich grundsätzlich vom Klassen-Prinzip, nach dem ein Professor
mit seinen Assistenten eine Klasse (etwa zehn bis zwölf Schüler) drei bzw. vier
Jahre lang ausbildet und dabei nach seinem Bilde prägt.
Ein
schon unter Berthold Held bewährter, unter Hugo Werner-Kahle sehr
unterschiedlich einzuschätzender, unmittelbar nach 1946 (7.43)
wiederbelebter Brauch wurde weiter gepflegt: Prominente Künstler,
Wissenschaftler und Politiker hielten Vorträge. Noch 1951 sprach Rudolf
Leonhard vor den Studenten, 1952 kamen Helene Weigel, Wolfgang Langhoff,
Karl-Eduard von Schnitzler, Ludwig Renn und Martin Hellberg. (7.44)
Neu belebt wurde auch das Vorstellen der Absolventen zur
Vermittlung des Engagements. Jürgen Degenhardt beschreibt, «daß für die sieben
Absolventen 1952 drei Vorspiele stattfanden. Das erste Vorspiel sah nur
Wolfgang Langhoff. Er war der erste Intendant, der die Schule in der
Schnellerstraße besuchte. Dann wurde ein Vorspiel für alle Berliner Intendanten
veranstaltet, zu einem dritten wurden Intendanten aus der Republik eingeladen.»
(7.45) Die Reverenz gegenüber dem Intendanten des
Deutschen Theaters spricht für die Bindungen, die noch immer zu dieser Bühne
bestanden.
Anmerkungen:
7.32
Dazu H. Buchwald-Wegeleben: «Dierichs hatte eigentlich seine Hauptlinie im Retten eines gewissen gepflegten Theaters...
Er kam aus der Dumont-Schule. Er hatte also auch die Dumont-Sprechweise. Er hatte irgendwie Kultur und wollte um
jeden Preis, daß die Kultur nicht verloren geht... Er versuchte, die hehre Kunst ein bißchen mit den neuen Einflüssen zu stützen.» In: Gespräch m.
H. Buchwald-Wegeleben, a.a.O.; dazu
Herbert Jhering: «Louise Dumont... vertritt heute
vielleicht am reinsten noch
den ursprünglichen Begriff
des Kulturtheaters. Für sie
ist Theater immer noch: Sendung,
Tempeldienst, Berufung...» In: Berliner
Börsen-Courier, 23.2.1932; dazu auch Dieter Perlwitz: «Der Leiter der Schule hat nicht konsequent um die Durchsetzung der Methoden Stanislawskis bei der Ausbildung gekämpft. Infolge seiner mangelhaften Kenntnis der
Methode Stanislawskis und damit der Unfähigkeit, diese praktisch anzuwenden und praktisch durchzusetzen, wurde er nicht zum anerkannten und
autoritativen Helfer und Anleiter
seiner Mitarbeiter. Trotz aller seiner Bemühungen, die voll anerkannt werden müssen, geriet er in den Nachtrab der bürgerlichen Lehrkräfte, die einen herkömmlichen
Unterricht durchführten.» In: Analyse
d. bish. Arbeit an d. Schauspielschule Berlin, Archiv M.f.K., ohne Sign. Zurück zum Text
7.33 Vgl.
Deutsches Bühnen-Jahrbuch Berlin 1945/48, S. 114 Zurück zum Text
7.34 Dazu Jürgen Degenhardt: «Sehr beliebt
war "Hildchen" Buchwald (Körpertraining)...
Wunderbarer Musikunterricht bei Paul Dessau, bei Heinrich
Kilger über Szene und bildende Kunst (wenig,
aber sehr erfreulich, beide natürlich extern). — Im szenischen Unterricht profitierte ich vom beliebten Dr. Heinz W.
Litten. (Gegenüber der Zeit an der
DT-Schule lag der szenische Unterricht arg danieder, so scheint es
mir).» HS-Archiv, Bl. C 1 Zurück zum Text
7.35
Schon ein Jahr später, mit Datum v. 3.12.1952,
faßte die Staatl. Komm. f. Kunstangelegenheiten ihren Beschluß Nr. 70, in dem unter
2. gefordert wird: «Es ist ein Plan für wissenschaftliche Arbeiten auf dem Gebiet der Theatergeschichte nach folgenden Hauptpunkten
auszuarbeiten: a) die fortschrittlichen Traditionen im deutschen Theater, b) die Tätigkeit von Otto Brahm und Max
Reinhardt...». In Auswertung des Beschlusses Nr. 70 hieß es wenig später: «Im Arbeitsplan ist weiterhin ein Forschungsauftrag über die Schaffung eines Grundrisses der deutschen Theatergeschichte enthalten. Dieser Punkt deckt sich mit dem Punkt "Die fortschrittlichen
Traditionen im deutschen Theater".
Über weitere Forschungsarbeiten, wie
die Tätigkeit von Otto Brahm und Max Reinhardt,
findet eine weitere Besprechung am 19. Jan. d.J. mit Prof. Lang, Gen. Kuckhoff, von Achenbach und
Gaillard in der Kunstkommission statt.
(Böhm)», Archiv M.f.K., Sign. Nr.
966/1 Zurück
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7.36 Fritz Erpenbeck,
Formalismus? in: Theater der Zeit, Berlin 1951, Heft
5, S. 4 Zurück
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7.37 Theater der Zeit, Berlin 1951, Hefte 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10, 11, 13, 16, 20 Zurück zum Text
7.38 Ottofritz Gaillard, Neue
Schauspielerziehung, in: Theater der Zeit, Berlin
1951, H. 14, S.36 Zurück
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7.39 Ebenda
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7.40 Vgl. Debatte zwischen Friedrich Wolf und
Bertolt Brecht, Formprobleme des Theaters aus neuem Inhalt, in: Theaterarbeit, Dresden 1952, S. 253f
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7.41 Heinrich Braulich, Max Reinhardt,
Berlin 1969, S. 66 Zurück zum
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7.42 Max Reinhardt, zitiert v. A. Kahane, Tagebuch des Dramaturgen, Berlin 1928, S. 115
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7.43
Von Herbert Jhering, Wolfgang Langhoff, Dr. Heinz W. Litten und Hans Rodenberg wurden Vorträge gehalten. Vgl. Lehrplan d. Schauspielschule
des Deutschen Theaters v. 27.11.1950, Archiv M.f.K., Sing, Nr. 996/2
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7.44 Vgl. C.
Pasemann, Versuch einer Chronik der Schauspielschule Berlin 1951 1956,
Diplom-Arbeit, S. 45, HS-Archiv Zurück zum Text
7. 45 Jürgen Degenhardt, zitiert in: C. Pasemann, a.a.O., S. 37 Zurück zum Text
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