1. Die Gründung (1905)
1.1 Theaterstadt
Berlin
Mit
Datum vom 20. Juli 1905, noch bevor Max Reinhardt das Deutsche Theater in der
Schumannstraße übernahm, richtete
sein Bruder Edmund folgendes Gesuch an das Königliche Polizei-Präsidium:
«Dem
Königlichen Polizei-Präsidium gestatte ich mir die ganz ergebene Mitteilung zu
machen, daß ich die Absicht habe, eine
Schauspielschule zu gründen, die den Zweck haben soll, meinem Theater einen
künstlerischen Nachwuchs zu sichern und sich mit der technischen Ausbildung des
Schauspielers zu befassen, wie sie die Pflege des klassischen und des modernen
Stildramas zur Bedingung macht. Die Schule, für die ich eine Reihe der
bedeutendsten Fachleute gewonnen habe, soll Mitte September eröffnet werden.
Hierdurch
erlaube ich mir die ganz ergebene Anfrage, ob gegen meine Absicht seitens des
Königlichen Polizei-Präsidiums irgendwelche Bedenken zu erheben wären.
für
Max Reinhardt in Generalvollmacht Edmund Reinhardt.» (1.1)
Rund
einen Monat später traf die Antwort ein:
«An Herrn Direktor Max Reinhardt. Hier. Neues
Theater. Auf das gef. Schreiben vom 20.V.M. erwidere
ich ergebenst, daß gegen Ihre Absicht, eine Schauspielschule
zu gründen, von Seiten des Polizei-Präsidiums nach keiner Richtung hin Bedenken
zu erheben sind.
Berlin,
18. August 1905. Der Pol.-Präs. I.V. Tr.v.GI.» (1.2)
Antwort des Polizei-Präsidenten (links) auf
dem Antrags-Schreiben Edmund Reinhardts
Damit war
der Weg frei für die Ausbildung von Schauspielern nach den künstlerischen
Intentionen Max Reinhardts. Wobei es ihm, wie sich zeigte, nicht nur um
Nachwuchs für sein Theater ging. Die Absolventen der Schule wurden auch von
anderen führenden Bühnen nicht nur Berlins gern engagiert. Sie waren Sendboten
seiner Schauspielkunst.
Reinhardt hatte sich in Berlin durchgesetzt, 1905, als er von Otto Brahm das Deutsche Theater übernahm, spielten in der Stadt
über zwanzig stehende Theater und einige kleine Saisonbühnen. Neben den
Königlichen Theatern, dem Schauspiel- und dem Opernhaus, pflegten das Deutsche
Theater, das Berliner Theater und das Schiller-Theater die gehobene klassische
bzw. moderne dramatische Literatur. Zeitgenössische Schauspiele und Lustspiele
deutscher und ausländischer Autoren brachten auch das Lessingtheater und das
Neue Theater. Das Residenztheater und das Trianon-Theater
bevorzugten den französischen Schwank und das Sittendrama. Operette wurde im
Central-, im Metropol- und im Apollo-Theater gespielt. Schwänke, Possen und
Singspiele waren im Thalia-Theater zu sehen. Als «Bühnen für die
weniger bemittelten Stände» (1.3) galten das
Schiller-Theater, das Carl-Weiß- und das Luisen-Theater.
Die relativ
große Zahl von Privattheatern in Berlin war im allgemeinen Ergebnis der industriell-monopolistischen
Entwicklung in Deutschland, im Besonderen die Folge der 1869 eingeführten
Gewerbefreiheit. Mit dem Theater war Geschäft zu machen - speziell in Berlin,
der Hauptstadt, die unter dem Einfluss des Kapitalismus schnell gewachsen war
und um 1900 bereits rund zwei Millionen Einwohner zählte.
«Ganze Stadtteile» waren entstanden, «bevor die wahren Bedürfnisse der Gemeinschaft und des Einzelnen
überblickt werden konnten... Niemals zuvor ist das Wohnbedürfnis so ohne
Bedenken zum Gegenstand der Gewinnsucht gemacht worden... Auf den tiefen
Grundstücken entstanden straßauf, straßab die berüchtigten Mietskasernen, mit
anspruchsvoll verzierten Stuckfassaden an der Straße, mit repräsentativen
Vorderhäusern für die Zahlungskräftigen und mit trostlosen Hinterhäusern und
Quergebäuden, in denen die arme Bevölkerung ungesund und unsittlich
zusammengepfercht war.» (1.4) Diese Welt «der
Hinterhäuser mit ihren Dirnen, Zuhältern, Schlafburschen, verwelkten Kindern,
proletarisierten Arbeitern, verzweifelten Müttern und Verbrechern unter der
Herrschaft der Portiers, der Hauswirte und der Polizei» (1.5)
hat Gerhart Hauptmann in seiner Berliner Tragikomödie «Die Ratten» sehr anschaulich
ins Bild gesetzt.
Die
rasch anwachsende Bevölkerung - freilich kaum die der Mietskasernen - bildete
das Publikumsreservoir der Theater. Die verbesserten Verkehrsverhältnisse
erleichterten den Besuch. In ähnlichem Tempo wie neue Stadtteile war der
städtische Nahverkehr gewachsen. Die Pferdeomnibusse wurden durch Straßenbahnen
und durch die Stadtbahn abgelöst. Die örtlichen Bedingungen also für die rasche
Entwicklung Berlins zu einer Theaterstadt waren außerordentlich günstig, zumal
der Anteil der aus der Ferne Zugewanderten sehr hoch war, die allgemeine
Belebung der Stadt mithin nicht nur von deren «Ureinwohnern» ausging.
Unternehmerische
Geschäftspraktiken, besonders auffallend beim Wohnungsbau, setzten sich auch im
Theaterbetrieb durch. Die Zeit der kunstbesessenen Prinzipale ging zu Ende.
Jeder Gastwirt konnte ein Theater eröffnen. Zahlreiche sogenannte «Rauch- und
Spezialitäten-Theater» entstanden, die sich mit Tingeltangel, Bierausschank und
Tabakkonsum regen Zuspruchs
erfreuten. (1.6) Jetzt gehörte zur Leitung eines
Theaters, das diesen Namen zu Recht verdiente, neben einem entwickelten
Kunstsinn auch ein ausgeprägter Geschäftssinn. Ein Glücksfall für das Theater,
wenn beides zusammentraf — wie bei Max Reinhardt und dessen Bruder Edmund,
seinem obersten Verwaltungschef. Um Weg und Wirken Max Reinhardts in der
Theaterstadt Berlin schlüssig einordnen zu können, sind einige Anmerkungen zur
Theaterpraxis um die Jahrhundertwende angebracht.
In
Deutschland war es üblich geworden, die Darsteller als Fachschauspieler zu
engagieren. Dies ermöglichte den Theaterbesitzern, Aufführungen von Stücken
schnell und billig lediglich mit ein bis zwei Proben herauszubringen. Der
Fachschauspieler hatte nämlich entsprechend seinem Fach eine Anzahl von Rollen
zu beherrschen. «Jeder Schauspieler», berichtet Eduard von Winterstein,
«reichte bei Abschluß eines Engagements ein
sogenanntes "Repertoire" ein, das heißt ein Verzeichnis der Rollen,
die er schon gespielt hatte und beherrschte und die er daher jederzeit ohne
lange Vorbereitung zu spielen bereit sein mußte.»
(1.7)
Die
damals üblichen Fächer der Männer waren: der erste Held, der jugendliche Held,
der Heldenvater, der erste Charakterspieler, der Charakterkomiker, der
humoristische Vater, der jugendliche Charakterspieler, der jugendliche Komiker,
der Bonvivant. Bei den Frauen: die erste Heldin und Salondame, die erste
Sentimentale, die Heldenmutter, die komische Alte, die naive und muntere
Liebhaberin, die Soubrette. Nach diesem starren Prinzip wurde das Personal
großer und kleiner Theater engagiert. «So war es damals wohl an sämtlichen
deutschen Bühnen, Berlin mehr oder weniger inbegriffen.» (1.8)
Der Vorteil für die Theaterdirektionen liegt auf der Hand, zumal für die
gängigen Stücke vielfach erprobte Arrangements zur Verfügung standen, die die
Darsteller im allgemeinen wie ihre Rolle kannten.
Ähnlich
«ökonomisch» wurde mit der Ausstattung verfahren. Historische Stücke wurden nach
dem Rezept «Vor Christi Geburt: nackte Beine, nach Christus: gelbe Stiefel»
aufgeführt. Wobei nackte Beine nicht wirkliche Nacktheit bedeuteten. «Bei den
Kostümen der Stücke, die vor Christi Geburt spielten, konnte man die Bühne
nicht anders betreten als in fleischfarbenen Trikots, die meist
eine wundervolle rosa Farbe hatten.» (1.9) Auch waren sie
mit Wattons ausgestattet,
denn dünne, wadenlose, gar nackte Beine schickten sich nicht auf der Bühne.
Der
Schauspieler Ludwig Barnay, späterer Mitbegründer des
Deutschen Theaters, beklagte sich bitter über die bei der Ausstattung
herrschenden Bräuche. Selbst die ersten Darsteller großer tragischer Rollen
waren darauf angewiesen, «sich in den abgelegten und schlecht gewordenen Kostümen
der Opernsänger zu zeigen, während man, um Don Carlos oder Hamlet, Wallenstein
oder Maria Stuart aufzuführen, die alten fadenscheinigen Dekorationen der
abgespielten Opern zusammenstoppelte.» (1.10)
Nicht
nur hinsichtlich der Ausstattung brachten die «Meininger» Bewegung in die
deutschen Theater. Die Meininger, das war das bald weltberühmte
Schauspielensemble des «Theaterherzogs» Georg II., der sein Hoftheater ganz dem
Schauspiel öffnete und epochemachende Reformen einleitete. Das Bühnenbild und
die Kostüme sollten so echt wie möglich wirken. Dazu kam ein Darstellungsstil,
der die Spieler der ersten Fächer und die der Massenszenen zu einem
einheitlichen Ensemblespiel im Sinne eines möglichst wirklichkeitsgetreuen
Theaters vereinte. Das war der Anfang vom Ende der Fachschauspieler.
«Neben
den guten Darstellern der Hauptrollen bewegten sich jetzt lebendige und
anteilvolle Volksgruppen, die, sorgfältig geschult,
jede Szene auf der Bühne mitzuerleben schienen. Wertvoller aber als alle diese
Errungenschaften war das liebevolle Eindringen in den Geist des darzustellenden
Kunstwerkes, das unermüdliche Herausarbeiten jeder Stimmung, jeder einzelnen
Szene und das Bestreben, die Darsteller zu einem wahrhaftigen Ensemble zu
erziehen.» (1.11) Die Wirkung der Meininger in Berlin war
außerordentlich. Das Ensemble aus der Provinz gastierte im Mai 1874 im
Friedrich-Wilhelmstädtischen Theater, dem späteren Deutschen Theater. Ludwig Barnay, der an vierundzwanzig Abenden auftrat, erinnert
sich: «Der Eindruck dieser ersten Vorstellung der Meininger war überaus groß
und reichte weit über den Erfolg eines gewöhnlichen Theaterabends hinaus...
Alle Kreise Berlins beschäftigten sich lebhaft mit dem Erfolg dieser
Vorstellung... und die Parteileidenschaft machte sich Luft in dem Schlachtrufe:
"Hie Schauspielhaus - Hie Meininger!"» (1.12)
Schauspielhaus — das war die bis dahin führende Berliner Bühne, das Königliche
Schauspiel, ein Hoftheater, das von dem ehemaligen Premierleutnant Botho von
Hülsen (1815-1886) auf Wunsch Friedrich Wilhelms IV. geleitet wurde, und zwar
streng «soldatisch». Unter seiner Generalintendanz, immerhin von 1851 bis 1886,
wurden die Königliche Oper und das Königliche Schauspiel bissig «Zirkus Hülsen»
genannt. Kennzeichnend für beide Bühnen war das Virtuosentum: große
Schauspieler, die sich in konservativen Aufführungen nach Belieben ausspielten.
Nun waren die Virtuosen von den zwar weniger versierten, aber im Ensemble
agierenden Meiningern ausgespielt worden. Die
Schlachtrufe für die Meininger mündeten in das Bestreben, in Berlin ähnlich
kunstvoll Theater zu machen.
Deutsches Theater in Berlin
Die
Hoffnungen knüpften sich an die Eröffnung des ehemaligen
Friedrich-Wilhelmstädtischen Theaters als Deutsches Theater. Die Namensgebung
war nicht zufällig. Sie ergab sich in Folge der Gründung
des «Deutschen Reiches», (1.13) ein Zeichen verspäteten
bürgerlichen deutschen Nationalbewußtseins. Adolf L'Arronge, bisher Verfasser von erfolgreichen Volksstücken
(u.a. «Mein Leopold» und «Hasemanns Töchter»)
etablierte das Theater l883 als ein Sozietäts-Unternehmen. Zu den Sozietären, (1.14) den Geld einbringenden
Gesellschaftern, gehörte Ludwig Barnay, der die
Prinzipien der Meininger gut kannte. «Mit der Geschichte des Deutschen
Theaters», konstatierte der Theaterkritiker Herbert Jhering,
«beginnt die europäische Bedeutung der Theaterstadt Berlin.» (1.15)
Die Eröffnungspremiere mit Schillers «Kabale und Liebe» — Ludwig Barnay spielt den Präsidenten, Josef Kainz den Ferdinand -
verlockte den Theaterkritiker Otto Brahm zu dem
nüchternen Lob: «Es war ein Zug in der Szene — jenes Etwas, das sich ebenso schwer einfangen wie in Worten feststellen läßt.» (1.16) Unter L'Arronge entwickelte
sich das Deutsche Theater zum Konkurrenten für das Königliche Schauspiel. Die
Virtuosen fügten sich ein in das Ensemble. Bald waren Schauspielernamen wie
Agnes Sorma, Josef Kainz, Arthur Kraußneck, Louise Dumont und Else
Lehmann ein Begriff. (1.17) Das Theater repräsentierte
durchaus die nationale deutsche Theaterkunst.
Adolph L’Arronge
L’Arronge resümiert: «Die Begründung des "Deutschen
Theaters" war damals in Berlin ein Bedürfnis... Der Reiz der Aufführungen ernster
Dichterwerke liegt dort nicht mehr bloß in der Einzelleistung dieses oder jenes
Künstlers, sondern in der Wirkung des Ganzen, das mit Fleiß und kunstsinnigem
Feingefühl geordnet und gestaltet wird.» (1.18) Und
weiter: «Das "Deutsche Theater" hatte durch das klassische Repertoire
und durch die Einstudierung und erfrischende Inszenierung anderer älterer Werke
immer ein Publikum...» (1.19)
Obwohl Ludwig Barnay vom
«Beispiel des treuen und ehrlichen Zusammenhaltens der Sozietäre
untereinander» (1.20) spricht, das sich auf alle beim Deutschen
Theater engagierten Mitglieder übertrug, war die Bindung nicht von langer
Dauer. Barnay selbst gründete l888 ein eigenes, das
Berliner Theater. «Wäre es mir nicht gelungen», schreibt L'Arronge,
«eine große Anzahl junger Talente zu finden und zu fördern, ich hätte den
Verlust aller meiner Sozietäre wohl schwer
verwunden...» (1.21)
In
der Freien Bühne, geleitet vom ehemals wohlwollenden Kritiker Otto Brahm, entstand dem Deutschen Theater ein harter
Konkurrent. Diese Bühne, ein 1889 nach französischem Vorbild ins Leben
gerufener Theaterverein, orientierte sich konsequent auf die sich wandelnde
Gegenwart, reflektiert durch Autoren wie Gerhart Hauptmann und Henrik Ibsen.
Otto Brahm postulierte: «Eine freie Bühne für das
moderne Leben schlagen wir auf. Im Mittelpunkt unserer Bestrebungen soll die
Kunst stehen, die neue Kunst, die die Wirklichkeit anschaut und das
gegenwärtige Dasein... Der Bannerspruch der neuen Kunst... ist das eine Wort:
Wahrheit; und Wahrheit auf jedem Lebenspfade ist es, die auch
wir erstreben und fordern.» (1.22)
Immerhin hatte L'Arronge Gerhart
Hauptmanns Stücke «Einsame Menschen» (1891), «Kollege Crampton»
(1893) und «Der Biberpelz» (1893) herausgebracht, aber Otto Brahm
hatte das sensiblere Gespür für diese «neue Kunst». Er begann l889 mit Ibsens
«Gespenstern», einer Aufführung, die sofort Aufsehen erregte. Und die
Uraufführung der «Weber» von Hauptmann (1892) versinnbildlichte sein Programm
dann in aller Deutlichkeit. Durch die nichtöffentlichen Aufführungen der Freien
Bühne für Vereinsmitglieder in eigens gemieteten Theatern konnte die Zensur
umgangen werden, weshalb letztlich keine andere Bühne ernsthaft zu konkurrieren
vermochte. Das Repertoire eines Theaters wurde zum Kristallisationsfeld des
künstlerischen Strebens. Verursacht auch durch den Verlust prominenter
Darsteller - Agnes Sorma und Josef Kainz waren zu Barnay gegangen - hatte L'Arronge
die Pflege des klassischen Dramas vernachlässigt und sich stärker als
ursprünglich beabsichtigt Unterhaltungsstücken zugewandt. Sein mittlerweile
privates Geschäftstheater schien der zunehmenden Konkurrenz nicht mehr gewachsen.
«Darum», so L'Arronge, «überließ ich es gern jüngeren
Kräften und neuen Zielen, in dieser immer mehr anschwellenden Flut der
Theaterfreiheit ihre Schwimm- und Steuerkünste zu versuchen.“ (1.23)
Otto Brahm
Die
junge Kraft hieß Otto Brahm. An ihn verpachtete L'Arronge l894 sein Deutsches Theater. Der neue Chef
übernahm das Haus in der Schumannstraße in einer politisch relativ günstigen Phase.
Der Reichstag hatte l890 der weiteren Verlängerung des Bismarckschen
Sozialistengesetzes seine Zustimmung versagt. Die deutsche Arbeiterklasse und
ihre damals führende Kraft, die Sozialdemokratie, ging
siegreich aus dem Kampf mit der Reaktion hervor. Das Proletariat und seine
soziale Lage waren als Gegenstand der Kunst gesellschaftsfähig geworden,
wenngleich noch immer aus der Sicht anteilnehmender Bürger, offenbart im
milieugerechten Naturalismus. Eine Herausforderung für die Bühnenkunst,
angenommen und beantwortet durch Otto Brahm - und
zwar im wesentlichen über seine erklärte Hinwendung zur naturalistischen
Gegenwartsdramatik und der Formung der Schauspieler für diese neuen Stücke.
Das
alte Prinzip der Besetzung nach Fach funktionierte nicht mehr. Jetzt war die
Individualität des Schauspielers gefragt - nicht das formale, fachtypische
«Sich-zur-Schau-stellen», sondern die natürliche Wahrhaftigkeit des Spiels,
nicht rhetorisch-deklamatorische Ausdruckskunst, sondern dienendes Abbilden,
nicht schönes Sprechen an sich, sondern den Wortsinn nachempfindendes. Der
Schauspieler trat in den Dienst der Lebenswahrheit des Dramas.
«Wir
wollen nicht mehr effektvolle Szenen spielen, sondern ganze Charaktere... wir
wollen nichts anderes sein als Menschen, welche durch den einfachen Naturlaut
der menschlichen Sprache aus ihrem Inneren heraus die Empfindungen der
darzustellenden Personen ermitteln, ganz unbekümmert darum, ob das Organ schön
und klingend, ob die Gebärde graziös, ob dies oder das in dies oder jenes Fach hineinpaßt, sondern ob es sich mit der Einfachheit der
Natur verträgt und ob es dem Zuschauer das Bild eines ganzen Menschen
zeigt», (1.24) erklärte Emanuel Reicher, ein Mitbegründer
der Freien Bühne.
Bestimmend
für den Spielplan waren Stücke von Gerhart Hauptmann, Henrik Ibsen, Otto Erich
Hartleben, Arno Holz und Johannes Schlaf, aber auch Werke u.a. von August
Strindberg und Hugo von Hofmannsthal. Zu den Darstellern des Brahm-Ensembles gehörten Eise Lehmann, Agnes Sorma, Josef Kainz, Arthur Kraußneck,
Rudolf Rittner, Emanuel Reicher, Eduard von Winterstein und — Max Reinhardt.
Otto
Brahm, der feinsinnige Regisseur, hatte ein
ungewöhnliches Gespür für Rhythmus und Tempo, für die gedankliche Durchdringung
der Dialoge und für die Erkundung der poetischen Idee eines Kunstwerkes. Dabei
schloss sein Bühnenrealismus die objektivierende, möglichst naturgetreue, eben
die naturalistische Wiedergabe der Wirklichkeit ein. Der Schauspieler hatte
sich in das künstlerische Abbild einzufügen. «Und diese beiden Faktoren»,
schrieb Eduard von Winterstein, «das harmonische Zusammenspiel der Schauspieler
auf der einen Seite und das feine, kritische Urteil Brahms auf der anderen
Seite, waren es, die das Deutsche Theater jener Zeit zu einer Kulturstätte
deutscher Schauspielkunst machten.» (1.25)
Die vom
Jahre l889, dem Gründungsjahr der Freien Bühne, ausgehende Reform «hat beinahe
aus dem Komödianten einen Gelehrten gemacht» (1.26) und führte
letztlich zu einem «Literaturtheater», das zwar die Entwicklung der
Schauspielkunst in Deutschland entscheidend beeinflusste und den konservativen
Deklamationsstil endgültig verdrängte, aber andererseits ein neues
«Stil-Korsett» mit sich brachte. Brahm selbst bekam
dies zu spüren, wenn er sich an Klassikern versuchte. Sein Alltagsrealismus
versagte ihm den Erfolg, war nicht wandlungsfähig genug für die nun einmal
notwendige stilistische Überhöhung bei klassischen Dichtungen, ob nun bei
Shakespeare oder bei Schiller. Derjenige unter Brahms Schauspielern, der dies
am ehesten empfand und auch aussprach, war der junge Max Reinhardt.
Anmerkungen:
1.1 Staatsarchiv
Potsdam, Pr. Br. Rep.30 Berlin C, Polizeipräsidium, Th Nr. 2839, Bl. l
1.2 Ebenda
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1.3 Vergl. Neuer
Theater-Almanach, Berlin 1905, S. 272 Zurück zum Text
1.4 . Scheffler, Berlin,
Berlin 1931, S. 89; zitiert in: Jürgen Kuczynski, Geschichte des Alltags des deutschen
Volkes, Bd. 4, Berlin 1982, S. 211
1.5 Ebenda, S. 89
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1.6 Vergl. Adolph L'Arronge,
Deutsches Theater und Deutsche Schauspielkunst,
Berlin 1986, S. 24; vergl. auch
Alexander Granach, Da geht ein Mensch, München 1982,
S. 207: «Ich ging oft zu Herrn Löwenthal ins Theater, wo ein Herr Bleich mit
Frau und Töchtern und Schwiegersöhnen ehrliches, aber schlechtes Theater
machte, richtige Schmiere. Da gab es alle zwei bis drei Tage ein neues Stück,
aber wenn man genau aufpaßte, konnte man sehen, daß es immer dasselbe Stück war. Es hieß immer Drama mit
Gesang und Tanz.» Zurück zum Text
1.7 Eduard von
Winterstein, Mein Leben und meine Zeit, Berlin 1951, S. 65
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1.8 Ebenda, S.68
1.9 Ebenda, S. 52
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1.10 Ludwig Barnay, Erinnerungen, Berlin 1952, S. 196
1.11 Ebenda, S. 197
1.12 Ebenda, S. 202 Zurück zum Text
1.13 Am 18. Januar 1871,
versammelten sich die Fürsten aller deutschen Staaten im Spiegelsaal des
Schlosses in Versailles und proklamierten den preußischen König Wilhelm I. zum
deutschen Kaiser. So wurde das Deutsche Reich gegründet.
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1.14 Zu den Sozietären
gehörten: L'Arronge, Ernst von Possart,
Ludwig Barnay, Friedrich Haase, Dr. August Förster
und Siegwart Friedmann. Possart
schied noch vor der Eröffnung aus.
1.15 Herbert Jhering,
Zur Geschichte des Deutschen Theaters; zitiert in: Verweile doch, hrsg. von
Renate Seydel, Berlin 1984, S.16
1.16 Zitiert in: Gerhard Wahnrau,
Berlin Stadt der Theater, Berlin 1957,5.545 Zurück zum Text
1.17 Ludwig Barnay, a.a.O., S. 358
1.18 Adolph L'Arronge, a.a.O., S. 72
1.19 Ebenda, S. 81 Zurück zum Text
1.20 Ludwig Barnay,
a.a.O., S. 364 Zurück zum
Text
1.21 Adolph
L'Arronge, a.a.O., S. 78
1.22 Otto Brahm
in: Freie Bühne für modernes Leben, Jg. l, H. l, Berlin, 29.1.1890
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1.23 Adolph L'Arronge,
a.a.O., S. 81 Zurück zum Text
1.24 Emanuel Reicher an Hermann Bahr, 3.10.1
893, in: Magazin für Literatur, Jg. 66, Nr. 43; zitiert in: Heinrich Braulich,
Max Reinhardt, Berlin 1969, S. 22 Zurück
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1 .25 Eduard von Winterstein, a.a.O., S. 287
1.26 Ebenda, S. 236
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