1. Die Gründung (1905)

 

 

 

 

 

 

 

1.1  Theaterstadt Berlin

 

Mit Datum vom 20. Juli 1905, noch bevor Max Reinhardt das Deutsche Theater in der Schumannstraße übernahm, richtete sein Bruder Edmund folgendes Gesuch an das Königliche Polizei-Präsidium:

 

«Dem Königlichen Polizei-Präsidium gestatte ich mir die ganz ergebene Mitteilung zu machen, daß ich die Absicht habe, eine Schauspielschule zu gründen, die den Zweck haben soll, meinem Theater einen künstlerischen Nachwuchs zu sichern und sich mit der technischen Ausbildung des Schauspielers zu befassen, wie sie die Pflege des klassischen und des modernen Stildramas zur Bedingung macht. Die Schule, für die ich eine Reihe der bedeutendsten Fachleute gewonnen habe, soll Mitte September eröffnet werden.

Hierdurch erlaube ich mir die ganz ergebene Anfrage, ob gegen meine Absicht seitens des Königlichen Polizei-Präsidiums irgendwelche Bedenken zu erheben wären.

für Max Reinhardt in Generalvollmacht Edmund Reinhardt.» (1.1)

 

Rund einen Monat später traf die Antwort ein:

 

 «An Herrn Direktor Max Reinhardt. Hier. Neues Theater. Auf das gef. Schreiben vom 20.V.M. erwidere ich ergebenst, daß gegen Ihre Absicht, eine Schauspielschule zu gründen, von Seiten des Polizei-Präsidiums nach keiner Richtung hin Bedenken zu erheben sind.

Berlin, 18. August 1905. Der Pol.-Präs. I.V. Tr.v.GI.» (1.2)

 

 

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Antwort des Polizei-Präsidenten (links) auf dem Antrags-Schreiben Edmund Reinhardts

 

 

Damit war der Weg frei für die Ausbildung von Schauspielern nach den künstlerischen Intentionen Max Reinhardts. Wobei es ihm, wie sich zeigte, nicht nur um Nachwuchs für sein Theater ging. Die Absolventen der Schule wurden auch von anderen führenden Bühnen nicht nur Berlins gern engagiert. Sie waren Sendboten seiner Schauspielkunst.

Reinhardt hatte sich in Berlin durchgesetzt, 1905, als er von Otto Brahm das Deutsche Theater übernahm, spielten in der Stadt über zwanzig stehende Theater und einige kleine Saisonbühnen. Neben den Königlichen Theatern, dem Schauspiel- und dem Opernhaus, pflegten das Deutsche Theater, das Berliner Theater und das Schiller-Theater die gehobene klassische bzw. moderne dramatische Literatur. Zeitgenössische Schauspiele und Lustspiele deutscher und ausländischer Autoren brachten auch das Lessingtheater und das Neue Theater. Das Residenztheater und das Trianon-Theater bevorzugten den französischen Schwank und das Sittendrama. Operette wurde im Central-, im Metropol- und im Apollo-Theater gespielt. Schwänke, Possen und Singspiele waren im Thalia-Theater zu sehen. Als «Bühnen für die weniger bemittelten Stände» (1.3) galten das Schiller-Theater, das Carl-Weiß- und das Luisen-Theater.

Die relativ große Zahl von Privattheatern in Berlin war im allgemeinen Ergebnis der industriell-monopolistischen Entwicklung in Deutschland, im Besonderen die Folge der 1869 eingeführten Gewerbefreiheit. Mit dem Theater war Geschäft zu machen - speziell in Berlin, der Hauptstadt, die unter dem Einfluss des Kapitalismus schnell gewachsen war und um 1900 bereits rund zwei Millionen Einwohner zählte.

«Ganze Stadtteile» waren entstanden, «bevor die wahren Bedürfnisse der Gemeinschaft und des Einzelnen überblickt werden konnten... Niemals zuvor ist das Wohnbedürfnis so ohne Bedenken zum Gegenstand der Gewinnsucht gemacht worden... Auf den tiefen Grundstücken entstanden straßauf, straßab die berüchtigten Mietskasernen, mit anspruchsvoll verzierten Stuckfassaden an der Straße, mit repräsentativen Vorderhäusern für die Zahlungskräftigen und mit trostlosen Hinterhäusern und Quergebäuden, in denen die arme Bevölkerung ungesund und unsittlich zusammengepfercht war.» (1.4) Diese Welt «der Hinterhäuser mit ihren Dirnen, Zuhältern, Schlafburschen, verwelkten Kindern, proletarisierten Arbeitern, verzweifelten Müttern und Verbrechern unter der Herrschaft der Portiers, der Hauswirte und der Polizei» (1.5) hat Gerhart Hauptmann in seiner Berliner Tragikomödie «Die Ratten» sehr anschaulich ins Bild gesetzt.

Die rasch anwachsende Bevölkerung - freilich kaum die der Mietskasernen - bildete das Publikumsreservoir der Theater. Die verbesserten Verkehrsverhältnisse erleichterten den Besuch. In ähnlichem Tempo wie neue Stadtteile war der städtische Nahverkehr gewachsen. Die Pferdeomnibusse wurden durch Straßenbahnen und durch die Stadtbahn abgelöst. Die örtlichen Bedingungen also für die rasche Entwicklung Berlins zu einer Theaterstadt waren außerordentlich günstig, zumal der Anteil der aus der Ferne Zugewanderten sehr hoch war, die allgemeine Belebung der Stadt mithin nicht nur von deren «Ureinwohnern» ausging.

Unternehmerische Geschäftspraktiken, besonders auffallend beim Wohnungsbau, setzten sich auch im Theaterbetrieb durch. Die Zeit der kunstbesessenen Prinzipale ging zu Ende. Jeder Gastwirt konnte ein Theater eröffnen. Zahlreiche sogenannte «Rauch- und Spezialitäten-Theater» entstanden, die sich mit Tingeltangel, Bierausschank und Tabakkonsum regen Zuspruchs erfreuten. (1.6) Jetzt gehörte zur Leitung eines Theaters, das diesen Namen zu Recht verdiente, neben einem entwickelten Kunstsinn auch ein ausgeprägter Geschäftssinn. Ein Glücksfall für das Theater, wenn beides zusammentraf — wie bei Max Reinhardt und dessen Bruder Edmund, seinem obersten Verwaltungschef. Um Weg und Wirken Max Reinhardts in der Theaterstadt Berlin schlüssig einordnen zu können, sind einige Anmerkungen zur Theaterpraxis um die Jahrhundertwende angebracht.

In Deutschland war es üblich geworden, die Darsteller als Fachschauspieler zu engagieren. Dies ermöglichte den Theaterbesitzern, Aufführungen von Stücken schnell und billig lediglich mit ein bis zwei Proben herauszubringen. Der Fachschauspieler hatte nämlich entsprechend seinem Fach eine Anzahl von Rollen zu beherrschen. «Jeder Schauspieler», berichtet Eduard von Winterstein, «reichte bei Abschluß eines Engagements ein sogenanntes "Repertoire" ein, das heißt ein Verzeichnis der Rollen, die er schon gespielt hatte und beherrschte und die er daher jederzeit ohne lange Vorbereitung zu spielen bereit sein mußte(1.7)

Die damals üblichen Fächer der Männer waren: der erste Held, der jugendliche Held, der Heldenvater, der erste Charakterspieler, der Charakterkomiker, der humoristische Vater, der jugendliche Charakterspieler, der jugendliche Komiker, der Bonvivant. Bei den Frauen: die erste Heldin und Salondame, die erste Sentimentale, die Heldenmutter, die komische Alte, die naive und muntere Liebhaberin, die Soubrette. Nach diesem starren Prinzip wurde das Personal großer und kleiner Theater engagiert. «So war es damals wohl an sämtlichen deutschen Bühnen, Berlin mehr oder weniger inbegriffen.» (1.8) Der Vorteil für die Theaterdirektionen liegt auf der Hand, zumal für die gängigen Stücke vielfach erprobte Arrangements zur Verfügung standen, die die Darsteller im allgemeinen wie ihre Rolle kannten.

Ähnlich «ökonomisch» wurde mit der Ausstattung verfahren. Historische Stücke wurden nach dem Rezept «Vor Christi Geburt: nackte Beine, nach Christus: gelbe Stiefel» aufgeführt. Wobei nackte Beine nicht wirkliche Nacktheit bedeuteten. «Bei den Kostümen der Stücke, die vor Christi Geburt spielten, konnte man die Bühne nicht anders betreten als in fleischfarbenen Trikots, die meist eine wundervolle rosa Farbe hatten.» (1.9) Auch waren sie mit Wattons ausgestattet, denn dünne, wadenlose, gar nackte Beine schickten sich nicht auf der Bühne.

Der Schauspieler Ludwig Barnay, späterer Mitbegründer des Deutschen Theaters, beklagte sich bitter über die bei der Ausstattung herrschenden Bräuche. Selbst die ersten Darsteller großer tragischer Rollen waren darauf angewiesen, «sich in den abgelegten und schlecht gewordenen Kostümen der Opernsänger zu zeigen, während man, um Don Carlos oder Hamlet, Wallenstein oder Maria Stuart aufzuführen, die alten fadenscheinigen Dekorationen der abgespielten Opern zusammenstoppelte.» (1.10)

Nicht nur hinsichtlich der Ausstattung brachten die «Meininger» Bewegung in die deutschen Theater. Die Meininger, das war das bald weltberühmte Schauspielensemble des «Theaterherzogs» Georg II., der sein Hoftheater ganz dem Schauspiel öffnete und epochemachende Reformen einleitete. Das Bühnenbild und die Kostüme sollten so echt wie möglich wirken. Dazu kam ein Darstellungsstil, der die Spieler der ersten Fächer und die der Massenszenen zu einem einheitlichen Ensemblespiel im Sinne eines möglichst wirklichkeitsgetreuen Theaters vereinte. Das war der Anfang vom Ende der Fachschauspieler.

«Neben den guten Darstellern der Hauptrollen bewegten sich jetzt lebendige und anteilvolle Volksgruppen, die, sorgfältig geschult, jede Szene auf der Bühne mitzuerleben schienen. Wertvoller aber als alle diese Errungenschaften war das liebevolle Eindringen in den Geist des darzustellenden Kunstwerkes, das unermüdliche Herausarbeiten jeder Stimmung, jeder einzelnen Szene und das Bestreben, die Darsteller zu einem wahrhaftigen Ensemble zu erziehen.» (1.11) Die Wirkung der Meininger in Berlin war außerordentlich. Das Ensemble aus der Provinz gastierte im Mai 1874 im Friedrich-Wilhelmstädtischen Theater, dem späteren Deutschen Theater. Ludwig Barnay, der an vierundzwanzig Abenden auftrat, erinnert sich: «Der Eindruck dieser ersten Vorstellung der Meininger war überaus groß und reichte weit über den Erfolg eines gewöhnlichen Theaterabends hinaus... Alle Kreise Berlins beschäftigten sich lebhaft mit dem Erfolg dieser Vorstellung... und die Parteileidenschaft machte sich Luft in dem Schlachtrufe: "Hie Schauspielhaus - Hie Meininger!"» (1.12) Schauspielhaus — das war die bis dahin führende Berliner Bühne, das Königliche Schauspiel, ein Hoftheater, das von dem ehemaligen Premierleutnant Botho von Hülsen (1815-1886) auf Wunsch Friedrich Wilhelms IV. geleitet wurde, und zwar streng «soldatisch». Unter seiner Generalintendanz, immerhin von 1851 bis 1886, wurden die Königliche Oper und das Königliche Schauspiel bissig «Zirkus Hülsen» genannt. Kennzeichnend für beide Bühnen war das Virtuosentum: große Schauspieler, die sich in konservativen Aufführungen nach Belieben ausspielten. Nun waren die Virtuosen von den zwar weniger versierten, aber im Ensemble agierenden Meiningern ausgespielt worden. Die Schlachtrufe für die Meininger mündeten in das Bestreben, in Berlin ähnlich kunstvoll Theater zu machen.

 

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Deutsches Theater in Berlin

 

Die Hoffnungen knüpften sich an die Eröffnung des ehemaligen Friedrich-Wilhelmstädtischen Theaters als Deutsches Theater. Die Namensgebung war nicht zufällig. Sie ergab sich in Folge der Gründung des «Deutschen Reiches», (1.13) ein Zeichen verspäteten bürgerlichen deutschen Nationalbewußtseins. Adolf L'Arronge, bisher Verfasser von erfolgreichen Volksstücken (u.a. «Mein Leopold» und «Hasemanns Töchter») etablierte das Theater l883 als ein Sozietäts-Unternehmen. Zu den Sozietären, (1.14) den Geld einbringenden Gesellschaftern, gehörte Ludwig Barnay, der die Prinzipien der Meininger gut kannte. «Mit der Geschichte des Deutschen Theaters», konstatierte der Theaterkritiker Herbert Jhering, «beginnt die europäische Bedeutung der Theaterstadt Berlin.» (1.15) Die Eröffnungspremiere mit Schillers «Kabale und Liebe» — Ludwig Barnay spielt den Präsidenten, Josef Kainz den Ferdinand - verlockte den Theaterkritiker Otto Brahm zu dem nüchternen Lob: «Es war ein Zug in der Szene — jenes Etwas, das sich ebenso schwer einfangen wie in Worten feststellen läßt.» (1.16) Unter L'Arronge entwickelte sich das Deutsche Theater zum Konkurrenten für das Königliche Schauspiel. Die Virtuosen fügten sich ein in das Ensemble. Bald waren Schauspielernamen wie Agnes Sorma, Josef Kainz, Arthur Kraußneck, Louise Dumont und Else Lehmann ein Begriff. (1.17) Das Theater repräsentierte durchaus die nationale deutsche Theaterkunst.

 

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Adolph L’Arronge

 

L’Arronge resümiert: «Die Begründung des "Deutschen Theaters" war damals in Berlin ein Bedürfnis... Der Reiz der Aufführungen ernster Dichterwerke liegt dort nicht mehr bloß in der Einzelleistung dieses oder jenes Künstlers, sondern in der Wirkung des Ganzen, das mit Fleiß und kunstsinnigem Feingefühl geordnet und gestaltet wird.» (1.18) Und weiter: «Das "Deutsche Theater" hatte durch das klassische Repertoire und durch die Einstudierung und erfrischende Inszenierung anderer älterer Werke immer ein Publikum...» (1.19)

Obwohl Ludwig Barnay vom «Beispiel des treuen und ehrlichen Zusammenhaltens der Sozietäre untereinander» (1.20) spricht, das sich auf alle beim Deutschen Theater engagierten Mitglieder übertrug, war die Bindung nicht von langer Dauer. Barnay selbst gründete l888 ein eigenes, das Berliner Theater. «Wäre es mir nicht gelungen», schreibt L'Arronge, «eine große Anzahl junger Talente zu finden und zu fördern, ich hätte den Verlust aller meiner Sozietäre wohl schwer verwunden...» (1.21)

In der Freien Bühne, geleitet vom ehemals wohlwollenden Kritiker Otto Brahm, entstand dem Deutschen Theater ein harter Konkurrent. Diese Bühne, ein 1889 nach französischem Vorbild ins Leben gerufener Theaterverein, orientierte sich konsequent auf die sich wandelnde Gegenwart, reflektiert durch Autoren wie Gerhart Hauptmann und Henrik Ibsen. Otto Brahm postulierte: «Eine freie Bühne für das moderne Leben schlagen wir auf. Im Mittelpunkt unserer Bestrebungen soll die Kunst stehen, die neue Kunst, die die Wirklichkeit anschaut und das gegenwärtige Dasein... Der Bannerspruch der neuen Kunst... ist das eine Wort: Wahrheit; und Wahrheit auf jedem Lebenspfade ist es, die auch wir erstreben und fordern.» (1.22)

Immerhin hatte L'Arronge Gerhart Hauptmanns Stücke «Einsame Menschen» (1891), «Kollege Crampton» (1893) und «Der Biberpelz» (1893) herausgebracht, aber Otto Brahm hatte das sensiblere Gespür für diese «neue Kunst». Er begann l889 mit Ibsens «Gespenstern», einer Aufführung, die sofort Aufsehen erregte. Und die Uraufführung der «Weber» von Hauptmann (1892) versinnbildlichte sein Programm dann in aller Deutlichkeit. Durch die nichtöffentlichen Aufführungen der Freien Bühne für Vereinsmitglieder in eigens gemieteten Theatern konnte die Zensur umgangen werden, weshalb letztlich keine andere Bühne ernsthaft zu konkurrieren vermochte. Das Repertoire eines Theaters wurde zum Kristallisationsfeld des künstlerischen Strebens. Verursacht auch durch den Verlust prominenter Darsteller - Agnes Sorma und Josef Kainz waren zu Barnay gegangen - hatte L'Arronge die Pflege des klassischen Dramas vernachlässigt und sich stärker als ursprünglich beabsichtigt Unterhaltungsstücken zugewandt. Sein mittlerweile privates Geschäftstheater schien der zunehmenden Konkurrenz nicht mehr gewachsen. «Darum», so L'Arronge, «überließ ich es gern jüngeren Kräften und neuen Zielen, in dieser immer mehr anschwellenden Flut der Theaterfreiheit ihre Schwimm- und Steuerkünste zu versuchen.“ (1.23)

 

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Otto Brahm

 

Die junge Kraft hieß Otto Brahm. An ihn verpachtete L'Arronge l894 sein Deutsches Theater. Der neue Chef übernahm das Haus in der Schumannstraße in einer politisch relativ günstigen Phase. Der Reichstag hatte l890 der weiteren Verlängerung des Bismarckschen Sozialistengesetzes seine Zustimmung versagt. Die deutsche Arbeiterklasse und ihre damals führende Kraft, die Sozialdemokratie, ging siegreich aus dem Kampf mit der Reaktion hervor. Das Proletariat und seine soziale Lage waren als Gegenstand der Kunst gesellschaftsfähig geworden, wenngleich noch immer aus der Sicht anteilnehmender Bürger, offenbart im milieugerechten Naturalismus. Eine Herausforderung für die Bühnenkunst, angenommen und beantwortet durch Otto Brahm - und zwar im wesentlichen über seine erklärte Hinwendung zur naturalistischen Gegenwartsdramatik und der Formung der Schauspieler für diese neuen Stücke.

Das alte Prinzip der Besetzung nach Fach funktionierte nicht mehr. Jetzt war die Individualität des Schauspielers gefragt - nicht das formale, fachtypische «Sich-zur-Schau-stellen», sondern die natürliche Wahrhaftigkeit des Spiels, nicht rhetorisch-deklamatorische Ausdruckskunst, sondern dienendes Abbilden, nicht schönes Sprechen an sich, sondern den Wortsinn nachempfindendes. Der Schauspieler trat in den Dienst der Lebenswahrheit des Dramas.

«Wir wollen nicht mehr effektvolle Szenen spielen, sondern ganze Charaktere... wir wollen nichts anderes sein als Menschen, welche durch den einfachen Naturlaut der menschlichen Sprache aus ihrem Inneren heraus die Empfindungen der darzustellenden Personen ermitteln, ganz unbekümmert darum, ob das Organ schön und klingend, ob die Gebärde graziös, ob dies oder das in dies oder jenes Fach hineinpaßt, sondern ob es sich mit der Einfachheit der Natur verträgt und ob es dem Zuschauer das Bild eines ganzen Menschen zeigt», (1.24) erklärte Emanuel Reicher, ein Mitbegründer der Freien Bühne.

Bestimmend für den Spielplan waren Stücke von Gerhart Hauptmann, Henrik Ibsen, Otto Erich Hartleben, Arno Holz und Johannes Schlaf, aber auch Werke u.a. von August Strindberg und Hugo von Hofmannsthal. Zu den Darstellern des Brahm-Ensembles gehörten Eise Lehmann, Agnes Sorma, Josef Kainz, Arthur Kraußneck, Rudolf Rittner, Emanuel Reicher, Eduard von Winterstein und — Max Reinhardt.

Otto Brahm, der feinsinnige Regisseur, hatte ein ungewöhnliches Gespür für Rhythmus und Tempo, für die gedankliche Durchdringung der Dialoge und für die Erkundung der poetischen Idee eines Kunstwerkes. Dabei schloss sein Bühnenrealismus die objektivierende, möglichst naturgetreue, eben die naturalistische Wiedergabe der Wirklichkeit ein. Der Schauspieler hatte sich in das künstlerische Abbild einzufügen. «Und diese beiden Faktoren», schrieb Eduard von Winterstein, «das harmonische Zusammenspiel der Schauspieler auf der einen Seite und das feine, kritische Urteil Brahms auf der anderen Seite, waren es, die das Deutsche Theater jener Zeit zu einer Kulturstätte deutscher Schauspielkunst machten.» (1.25)

Die vom Jahre l889, dem Gründungsjahr der Freien Bühne, ausgehende Reform «hat beinahe aus dem Komödianten einen Gelehrten gemacht» (1.26) und führte letztlich zu einem «Literaturtheater», das zwar die Entwicklung der Schauspielkunst in Deutschland entscheidend beeinflusste und den konservativen Deklamationsstil endgültig verdrängte, aber andererseits ein neues «Stil-Korsett» mit sich brachte. Brahm selbst bekam dies zu spüren, wenn er sich an Klassikern versuchte. Sein Alltagsrealismus versagte ihm den Erfolg, war nicht wandlungsfähig genug für die nun einmal notwendige stilistische Überhöhung bei klassischen Dichtungen, ob nun bei Shakespeare oder bei Schiller. Derjenige unter Brahms Schauspielern, der dies am ehesten empfand und auch aussprach, war der junge Max Reinhardt.

 

 

 

 

                Anmerkungen:

 

1.1       Staatsarchiv Potsdam, Pr. Br. Rep.30 Berlin C, Polizeipräsidium, Th Nr. 2839, Bl. l

1.2       Ebenda  Zurück zum Text

1.3       Vergl. Neuer Theater-Almanach, Berlin 1905, S. 272  Zurück zum Text

1.4  . Scheffler, Berlin, Berlin 1931, S. 89; zitiert in: Jürgen Kuczynski, Geschichte des Alltags des deutschen Volkes, Bd. 4, Berlin 1982, S. 211

1.5       Ebenda, S. 89  Zurück zum Text

1.6       Vergl. Adolph L'Arronge, Deutsches Theater und Deutsche Schauspielkunst, Berlin  1986, S. 24; vergl. auch Alexander Granach, Da geht ein Mensch, München 1982, S. 207: «Ich ging oft zu Herrn Löwenthal ins Theater, wo ein Herr Bleich mit Frau und Töchtern und Schwiegersöhnen ehrliches, aber schlechtes Theater machte, richtige Schmiere. Da gab es alle zwei bis drei Tage ein neues Stück, aber wenn man genau aufpaßte, konnte man sehen, daß es immer dasselbe Stück war. Es hieß immer Drama mit Gesang und Tanz.»  Zurück zum Text

1.7       Eduard von Winterstein, Mein Leben und meine Zeit, Berlin 1951, S. 65  Zurück zum Text

1.8      Ebenda, S.68

1.9       Ebenda, S. 52  Zurück zum Text

1.10   Ludwig Barnay, Erinnerungen, Berlin 1952, S. 196

1.11   Ebenda, S. 197

1.12   Ebenda, S. 202  Zurück zum Text

1.13      Am 18. Januar 1871, versammelten sich die Fürsten aller deutschen Staaten im Spiegelsaal des Schlosses in Versailles und proklamierten den preußischen König Wilhelm I. zum deutschen Kaiser. So wurde das Deutsche Reich gegründet.  Zurück zum Text

1.14    Zu den Sozietären gehörten: L'Arronge, Ernst von Possart, Ludwig Barnay, Friedrich Haase, Dr. August Förster und Siegwart Friedmann. Possart schied noch vor der Eröffnung aus.

1.15     Herbert Jhering, Zur Geschichte des Deutschen Theaters; zitiert in: Verweile doch, hrsg. von Renate Seydel, Berlin 1984, S.16

1.16    Zitiert in: Gerhard Wahnrau, Berlin Stadt der Theater, Berlin 1957,5.545   Zurück zum Text

1.17     Ludwig Barnay, a.a.O., S. 358

1.18    Adolph L'Arronge, a.a.O., S. 72

1.19    Ebenda, S. 81   Zurück zum Text

1.20    Ludwig Barnay, a.a.O., S. 364   Zurück zum Text

1.21      Adolph L'Arronge, a.a.O., S. 78

1.22     Otto Brahm in: Freie Bühne für modernes Leben, Jg. l, H. l, Berlin, 29.1.1890  Zurück zum Text

1.23    Adolph L'Arronge, a.a.O., S. 81   Zurück zum Text

1.24     Emanuel Reicher an Hermann Bahr, 3.10.1 893, in: Magazin für Literatur, Jg. 66, Nr. 43; zitiert in:    Heinrich Braulich, Max Reinhardt, Berlin 1969, S. 22   Zurück zum Text

1 .25    Eduard von Winterstein, a.a.O., S. 287

1.26     Ebenda, S. 236

 

 

 

 

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