9. Die Herausforderung Brecht  (1962 – 1975)

 

 

 

schuhu

„Der Schuhu und die fliegende Prinzessin“ von Peter Hacks mit Hermann Beyer, Klausjürgen Steinmann und Eckart Müller (v.l.n.r.)

 

 

9.12  Studioinszenierungen

Der allgemeine Erfolg mit den Studio-Inszenierungen «Mann ist Mann» von Bertolt Brecht (1964) und «Der Schuhu und die fliegende Prinzessin» von Peter Hacks (1966) im b.a.t. im Stadtbezirk Prenzlauer Berg in Berlin hatte Mut gemacht, alljährlich mit dem jeweils 3. Studienjahr als Abschluss des Studiums eine solche Inszenierung vor die Öffentlichkeit zu bringen. So konnten die erreichten Ausbildungsergebnisse am besten ausgewiesen und vor Publikum geprüft werden, ob sich die Schule auf die wechselnden Erfordernisse der Theaterpraxis einzustellen vermochte. Hinsichtlich des «Spielplans» gelegentlich auch ungerecht mit professionellen Theatern verglichen zu werden, wurde in Kauf genommen.

 

mond

„Mond von links“ von Bill-Bjelozerkowski mit Elke Brosch und Jürgen Reuter

 

1967 inszenierte Rudolf Penka das Schauspiel «Mond von links» von Bill-Bjelozerkowski. Die Aufführung mit Elke Brosch und Jürgen Reuter in den Hauptrollen erhielt den Kritikerpreis der «Berliner Zeitung» für junge Schauspieler. Sie machte aber zugleich bewußt, wie schwer es sein würde, das erreichte künstlerische Niveau Jahr für Jahr zu halten. Immer offenkundiger wurde, daß eine dreijährige Ausbildung für Schauspieler — international nicht mehr üblich, national seit 1951 unterschiedlich gehandhabt - nicht mehr zu vertreten war.

 

katzgraben

„Katzgraben“ von Erwin Strittmatter mit Gabriele Gysi, Roland Hemmo, Reinhard Straube und Burkhard Plettau

 

So wurde 1969 mit Unterstützung des Ministeriums für Kultur erstmals versucht, ein 4. Studienjahr zu testen. Der größte Teil der Studenten, unter anderen Voraussetzungen aufgenommen, entschloss sich, die Möglichkeit gründlicherer Ausbildung wahrzunehmen. Folgerichtig ging schon im September, also zu Beginn des 4. Studienjahres, eine Studioinszenierung in die Premiere, gespielt wurde Erwin Strittmatters Komödie «Katzgraben» (Regie Hans-Georg Voigt/Piet Drescher). Die Inszenierung, schrieb die «BZ am Abend», weist die meisten Studenten «als Schauspieler aus, die menschliche Haltungen und Verhaltensweisen gestisch, mimisch und sprachlich sicher auszudrücken verstehen.» (9.63) Ernst Schumacher urteilte: «Die wesentlichen Leistungen lagen im Einzelnen, nicht im Ganzen. Es fehlte die große, durchgängige Kraft, man hatte den Eindruck, daß die Szenen so, wie sie aus den Proben kamen, nebeneinander gestellt worden waren, noch keineswegs organisch verbunden und gleichmäßig durchgearbeitet... Trotzdem war die Wiederbegegnung mit "Katzgraben", war die erste Begegnung mit dem schauspielerischen Nachwuchs von Interesse...» (9.64) Die Aufführung erhielt den Kritikerpreis der «Berliner Zeitung».

Zu den Darstellern gehörten: Jürgen Huth (Kleinschmidt), Gabriele Heinz (Frau Kleinschmidt), Vera Irrgang (Elli), Bernd Storch (Hermann), Jörg Gudzuhn (Steinert), Ulrich Anschütz (Günter), Reinhard Straube (Mittelländer), Roland Hemmo (Großmann), Gabriele Gysi (Frau Großmann), Uta Schorn (Erna), Edgar Harter (Gemeindebote) und Burkhard Plettau (Mammler).

Mit Uta Schorn als Prinzessin, Roland Hemmo als König-Vater, Reinhard Straube als König und Jörg Gudzuhn als Bürgermeister kam am Theater der Freundschaft «Der nackte König» von Jewgeni Schwarz in der Regie von Heiner Möbius als zweite Studioinszenierung zur Aufführung.

 

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„Der Ritter von der flammenden Mörsekeule“ von Beaumont/Fletcher mit Edgar Harter, Gabriele Heinz und Jörg Gudzuhn (v.l.n.r.)

 

Als dritte Inszenierung dieses Studienjahres wurde 1970 in der Probebühne der Volksbühne die kaum bekannte Komödie «Der Ritter von der flammenden Mörserkeule» von Beaumont/Fletcher aufgeführt. Regie führte Eberhard Esche vom Deutschen Theater. Es war dies ein achtbarer Versuch, komödiantische Mittel locker und souverän einzusetzen. «Es ist Eberhard Esche und seinen Mitarbeitern gelungen», schrieb ein Kritiker, «... ein Ergebnis herzustellen von großer Geschlossenheit und künstlerischer Überzeugungskraft. Vor allem: Der Spaß an der Arbeit übertrug sich auf die Zuschauer.» (9.65) Zu den Darstellern gehörten Gabriele Heinz, Uta Schorn, Ulrich Anschütz, Jörg Gudzuhn, Edgar Harter, Roland Hemmo, Werner Hennrich, Klaus Peter-Pleßow und Stephan Schweninger.

Leider gelang es damals nicht, das 4. Studienjahr unter Beibehaltung des Fachschul-Status zu stabilisieren. Gedacht war an einen öffentlichen Spielbetrieb analog zu dem der Theaterschulen in Moskau, Prag, Warschau und Budapest. Aber die dafür notwendigen Mittel, insbesondere ein entsprechendes kleines Theater, konnten kurzfristig nicht bereitgestellt werden. Zumal das bisher genutzte Theater - ein altes Kino-Gebäude in der Belforter Straße, bekannt geworden unter dem Namen «bat» - durch Unwetterschäden unvorhergesehen in einen baulichen Zustand geraten war, der seine weitere Nutzung unmöglich machte. (9.66) Daher hatten für den «Nackten König» und den «Ritter» andere Spielstätten gesucht werden müssen. Der Studienbetrieb musste also im Rahmen der Fachschule fortgesetzt werden.

 

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„Krach in Chiozza“ von Carlo Goldoni

 

Starke Beachtung fand 1971 eine nun wieder mit dem 3. Studienjahr unternommene Studioinszenierung von Carlo Goldonis großer volksverbundener Komödie «Krach in Chiozza» auf der Probebühne der Schauspielschule. Regie führte Gertrud Elisabeth Zillmer. Auf dem Programmzettel bekundeten die Studenten ihre Absichten: «1. Kollektive Erarbeitung einer für uns spielbaren Stückkonzeption. 2. Rollenbesetzung im Kollektiv nach vorangegangenen Testproben. 3. Zusammenführung aller erworbenen Fähigkeiten beim Aufbau einer ganzen Figur. 4. Das Spiel im Ensemble - die Verantwortung des einzelnen im Kollektiv. 5. Realisierung einer Aufführung aus eigenen Mitteln. 6. Eigene Werbung und Organisierung von Zuschauerkontakten. 7. Theoretische Arbeiten über das Stück und die zu spielende Figur.» (9.67)

Die Presse urteilte zustimmend: «Man darf den jungen Darstellern ... bescheinigen, daß sie in kollektiver Auswahl eine richtige Entscheidung für die Besetzung der Rollen getroffen haben, ebenso, daß sie bei feststellbarer Unterschiedlichkeit der Begabung doch eine hohe Gleichrangigkeit in der Gestaltung fanden. Sie verstanden es außerdem, die verschiedenen Fähigkeiten, die sie im Unterricht vermittelt bekamen, erfolgreich für den Aufbau von Figuren zusammenzufügen, ebenso, kollektives Spiel und individuelle Profilierung durchaus überzeugend zu verbinden.» (9.68)

In der «Weltbühne» war zu lesen: «... muß ich sagen, daß dieser "Krach in Chiozza", wie er in Niederschöneweide aufgeführt wurde, sich sehen und hören lassen kann. Wenn auch unter der Leitung von Gertrud Elisabeth Zillmer kein einheitlicher Grundgestus gefunden worden war, so gab es doch nur selten Leere oder Spannungslosigkeit und kaum naturalistische Ausrutscher, geschweige Fehltritte. Farbe, Bewegung, Ausdruckskraft, Intensität herrschten vor.» (9.69) Zu den Spielern gehörten: Arndt-Michael Schade (Padron Toni), Eva-Sybille Edel (Lucietta), Wolf-Dieter Lingk (Padron Fortunato), Sigrid Herforth (Orsetta) und Karin Weser (Checca).

 

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„Herr Puntila und sein Knecht Matti“ von Bertolt Brecht mit Gösta Knothe und Hansjürgen Hürrig (r.)

 

Im Jahre 1972 inszenierte Rudolf Penka Brechts Volksstück «Herr Puntila und sein Knecht Matti» von Bertolt Brecht mit Hansjürgen Hürrig als Puntila, Katarina Tomaschewsky als Eva, Gösta Knothe als Matti und Walther Plathe als Richter. «Den Puntila», schrieb Ernst Schumacher, «brachte Hansjürgen Hürrig vor allem in den Parts zur Wirkung, in denen Puntila betrunken ist. Rotbäckig, mit riesigen Koteletten, faunisch geil, larmoyant-geschwätzig bis zur Gutsbesitzerarie auf das schöne Tavaastland, verlieh er der Figur die benötigte Kontur, die sie uns teilweise sympathisch macht. Mit den Phasen der Nüchternheit kam Hürrig weniger überzeugend zurecht... Trotz dieses Mangels erwies sich Hürrig als herausragender Darsteller.» (9.70)

 

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„Spiel im Zirkus“ mit Sabine Selle und Wolfgang Hosfeld (r.)

 

Ein Jahr später besorgte Horst Hawemann die Studioinszenierung «Spiel im Zirkus» von Beatrice Tanaka, u.a. mit Sabine Selle, Birgit Edenharter, Wolfgang Hosfeld und Michael Pan. Die Aufführung, im Theater der Freundschaft herausgebracht, war ein Versuch, schon in der Ausbildung auf Probleme und Besonderheiten des Kinder- und Jugendtheaters einzugehen.

Erfreulich große internationale Beachtung fand 1974 die Studioinszenierung des dramatischen Poems «Glanz und Tod des Joaquin Murieta» von Pablo Neruda in der Regie von Klaus Erforth und Alexander Stillmark. «Diese Aufführung ging ganz von der ästhetischen Prämisse aus, das Wort, den Vers, den Text mit... Konsequenz ins Gestische zu übersetzen...» (9.71) Die Vorstellung fand in der Probebühne des Deutschen Theaters statt, wo das Publikum in der Mitte auf dem Boden Platz nahm und die Handlungsorte ringsum aufgebaut waren. Eine solche kommunikationsintensive Spielform war bislang mit Studenten noch nicht ausprobiert worden. «Es war die Ehrung für Neruda, die am meisten dafür angetan war, das Poetische im Politischen, das Politische im Poetischen aufgehen zu lassen. Wenn hervorzuheben ist, daß Axel Werner die Rolle des Dreifinger, Hans-Joachim Frank die des Reyes, Thomas Wolff die des Hochstaplers, Hartmut Schreier die des Murieta ausgezeichnet verkörperten, so kamen sie im Rahmen einer durchgängig hochgeformten Spielweise, beherrscht von allen Mitwirkenden, zur Entfaltung. Es war eine ausgezeichnete Kollektivleistung...» (9.72) Die «Berliner Zeitung» würdigte die Aufführung mit dem Kritikerpreis.

 

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„Glanz und Tod des Joaquin Murieta“ von Pablo Neruda

 

1975 wurde die Inszenierung in einer zweiten Besetzung gespielt, u.a. mit Dagmar Jaeger, Klaus-Hilmar Eichhorn, Roman Kaminski, Heidrun Perdelwitz, Ruth Reinecke und Immanuel Seilkopf. Sie erhielt ein Diplom des III. Festivals der Freundschaft zwischen der Jugend der UdSSR und der DDR, wurde in einer Fernsehbearbeitung aufgezeichnet und zum Theater der Nationen nach Warschau eingeladen. Über das Gastspiel urteilte der französische Kritiker Raffalli: «Hier, wo der Sozialismus mit sich selbst übereinstimmt, zielt er weit und schlägt gerecht zu. Nichts Überflüssiges... gibt es in der Inszenierung von Erforth/Stillmark, die von den jungen Komödianten der Berliner Schauspielschule gespielt wurde. Alles verlangt hier auf ganz natürliche Weise nach Musik. Weniger nach der von chilenischen Gitarren oder amerikanischem Blech, als vielmehr nach dem Händeklatschen, Füßestampfen, dem angstvollen Keuchen, dem schwarzen Schrei des Todes und dem klaren Hervorsprudeln des Lachens. Durch vollkommene mathematische Strenge erreicht das Deutsche Theater mit MURIETA die höchste Poesie. Dadurch wird das Gedicht Nerudas das der ganzen Erde, der ganzen erniedrigten Welt. Kraft ihres Engagements, durch ihre Abkehr von allem Modischen, durch die klare Durchschlagkraft ihrer Bilder verkörperten die jungen Leute aus Berlin zweifellos die Ehre des Theaters.» (9.73)

Da schließlich kein 4.Studienjahr eingeführt worden war und also durchgängiger Spielbetrieb nicht möglich geworden, ergaben sich jedes Jahr Probleme insofern, als nicht alle Studenten eines Studienjahres in einer Studioinszenierung besetzt werden konnten. So mussten stets einige Absolventen auf ihren ersten öffentlichen Auftritt warten, bis sie ins Engagement gegangen waren. Darunter finden sich inzwischen namhafte Schauspielerinnen und Schauspieler. Hier seien genannt: Bernd Baier, Eckard Becker, Michael Gwisdek, Klaus Hecke, Cornelia Schmaus, Hans-Joachim Spitzer, Ursula Staack, Ursula Werner (1968); Monika Bielenstein, Jörg Gudzuhn, Gabriele Gysi, Gabriele Heinz, Uta Schorn, Reinhard Straube (1969), Juliane Koren, Hans Klima, Henry Hübchen, Evelyn Opoczynski, Hans Radloff (1970); Wolfgang Brumm, Bernhard Geffke, Wolf-Dieter Lingk (1971); Sybille Böversen, Hans Burkia, Elvira Grecki, Matthias Günther, Hansjürgen Hürrig, Walther Plathe, Elisabeth Zwieg (1972); Johannes Achtelik, Joachim-Albrecht Goette, Hannelore Koch, Sabine Selle, Christian Steyer, Thomas Thieme (1973); Hans-Joachim Fran, Martin Seifert, Swetlana Schönfeld, Barbara Schnitzler, Thomas Wolff (1974); Klaus-Hilmar Eichhorn, Dagmar Jaeger, Roman Kaminski, Doris Otto, Angelika Perdelwitz, Heidrun Welskop (1975), Detlef Bierstedt, Joachim Kaps, Ruth Reinecke (1976).

Die Absolventen jener Jahre haben mit ihren künstlerischen Leistungen hohe Anerkennung gefunden. Sie haben ihre Individualität in die deutsche Theaterlandschaft eingebracht, obwohl sie oder eher weil sie alle mehr oder weniger innig geprägt wurden von der schöpferischen Reibung, die sich während ihrer Ausbildung und danach aus den Herausforderungen des Brechtschen Wirkens ergaben. Ihr Markenzeichen: Sie begreifen und fassen menschliches Dasein als in seinem widersprüchlichen Wesen natürlich und zugleich sozial. Verfremdungen auf der Bühne dienen ihnen nicht zu medialer Verschleierung, sondern zu theatraler Offenlegung dieser Zusammenhänge.

 

 

 

 

Anmerkungen:

 

9.63    N.P., Wiederentdecktes «Katzgraben», BZ am Abend, Berlin, 1.10.1969   Zurück zum Text

9.64     Ernst Schumacher, «Katzgraben» im bat, Berliner Zeitung, 22.10.1969   Zurück zum Text

9.65     Martin Linzer, Mehr als ein Studenten-Ulk, Theater der Zeit, 1970, Heft 7, S. 35   Zurück zum Text

9.66     Erst 1975, im Zusammenhang mit der Gründung des Instituts für Schauspielregie, konnte das Gebäude saniert werden.   Zurück zum Text

9.67    HS-Archiv, o. Sign.   Zurück zum Text

9.68      Ernst Schumacher, Gesellenstück als Meisterstück, in: Berliner Zeitung, 2.6.1971   Zurück zum Text

9.69    Günther Cwojdrak, Munterer «Krach in Chiozza», in: Weltbühne, Berlin, 22/1971   Zurück zum Text

9.70     Ernst Schumacher, «Puntila», Berliner Zeitung, 31.5.1972   Zurück zum Text

9.71     Rainer Kerndl, Pablo Nerudas Vers ins Gestische übersetzt, Neues Deutschland, Berlin, 18.4.1974   Zurück zum Text

                                    9.72    Ernst Schumacher, Ballade von Murieta, Berliner Zeitung, 17.4.1974   Zurück zum Text

9.73    Bernard Raffalli, Über das Theater der Nationen, Le Monde, Paris, 17.6.1975   Zurück zum Text

 

 

 

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