9. Die Herausforderung Brecht  (1962 – 1975)

                                                                                                     

 

 

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Jürgen Reuter (r.) als Puntila und Manfred Richter als Knecht Matti

 

 

9.10 Erfolg in Stockholm

Relativ schnell, schon 1967, bestätigte ein außergewöhnlicher internationaler Erfolg die Richtigkeit des von Rudolf Penka eingeschlagenen schauspielmethodischen Weges. 1962 hatte das Internationale Theater-Institut beschlossen, internationale Symposien über die Berufsausbildung der Schauspieler zu veranstalten. Das Thema des fünften Symposiums, das vom 24. bis 30. April 1967 in Stockholm stattfand, lautete: «Die Methoden, die den Schauspieler befähigen, die soziale und kulturelle Atmosphäre im Zusammenhang mit den Texten verschiedener Stile, die er zu interpretieren berufen ist, zu begreifen und sich anzueignen.» Das Thema widerspiegelte unverkennbar die mit Brecht auch international aufgekommene Hinwendung zum sozialen Umfeld der jeweiligen Fabeln und Figuren und kam der mittlerweile praktizierten Arbeitsweise der Berliner Schauspielschule sehr entgegen.

Die Einladung war eine bemerkenswerte Anerkennung, und ganz selbstverständlich wurden die Vorbereitungen sehr ernst genommen. Vom Internationalen Theater-Institut waren fünf Schulen eingeladen worden: die Zentralschule für Sprache und Drama London, die Hochschule für Schauspielkunst Strasbourg, die Schauspielschule Berlin, die Akademie für Theater, Film, Fernsehen und Radio Belgrad und die Staatsschule für Bühnenausbildung Stockholm. Eine Fachschule ging hier in die Konkurrenz mit vier Hochschulen. Den Schulen waren «Texte verschiedener Stile» aufgegeben, «nämlich Moliere der Strasbourger und der Londoner, Strindberg der Stockholmer und der Belgrader, Tschechow der Belgrader und der Berliner, Brecht der Berliner und der Strasbourger, Pinter der Londoner und der Stockholmer. An welchen Stücken, an welchen Szenen aus dem Werk dieser Autoren die Schulen ihre Arbeit vorführten und erläuterten, war ihnen freigestellt. Die Schulen hatten ferner den Auftrag, zu jeder Szene Übungen zu zeigen, schauspielmethodische und aus anderen Fächern, die sie verwendet hatten, um die Ergebnisse der Arbeit an der Szene zu erreichen.» (9.56)

 

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Sigrid Skoetz und Klaus Hecke in Tschechows „Heiratsantrag“

 

Die Berliner Schauspielschule reiste an mit der ersten Szene aus Brechts «Herr Puntila und sein Knecht Matti», gearbeitet von Hans-Georg Voigt vom Berliner Ensemble, und mit einem Ausschnitt aus Tschechows «Heiratsantrag», gearbeitet von Rudolf Penka. Das viertelstündige Referat über Eigenart, Ziele und Aufbau der Schule sowie ihr methodisches Selbstverständnis hielt Dr. Gerhard Piens, Dozent für Theaterwissenschaft. Der «Tag der DDR» wurde zu einem überraschend großen Erfolg.

Rudolf Penka und Gerhard Piens berichteten: «Uns war nicht sehr wohl an dem Morgen... Wir hatten in Stockholm noch nicht probieren können... Als wir um 8 Uhr ins Stadttheater kamen, stand auf der Bühne noch die massive "Hamlet“-Dekoration. Aber zwei Stunden später hatten wir die Probe doch noch geschafft, und im Zuschauerraum, den an den beiden Tagen vorher Delegierte, Studenten, darunter alle schwedischen Schauspielschüler und eine große Gruppe aus Oslo, offizielle Gäste, Schlachtenbummler, alles in allem etwa 400 Personen, zur Hälfte füllten, saßen 600, wenn nicht 700 Menschen... Vom ersten Szenenbeifall, als Rudolf Penka am Schluß seines Einführungsvortrages sich in die "Puntila"-Szene einarrangierte, um den betrunkenen Oberrichter zu spielen, lief es dann gut. Am Abend klangen uns die Ohren von den vielen Glückwünschen, und da die Zeit zum Diskutieren während der Tagung sehr kurz gewesen war, kamen wir vor lauter Gesprächen an diesem Abend spät ins Hotel.» (9.57)

Bei der Auswertung der Arbeitswoche durch die Vertreter des Internationalen Theater-Instituts wurde die Berliner Schauspielschule noch einmal besonders gelobt wegen der Klarheit ihrer Absichten und der Erfolge ihrer Methode und wegen der Klugheit, Sicherheit und Bescheidenheit, mit der ihre Studenten ihre Arbeit vertraten.

Jürgen Reuter, nach dem Studium am Landestheater Halle, seit 1974 Schauspieler des Ensembles des Fernsehens der DDR, bekannt geworden u.a. durch Filme wie «Broddi», «Karl Marx, Stationen eines Lebens», «Clausewitz», «Der Teufelskreis», «Front ohne Gnade» und «Georg Weerth», schrieb damals: «Wir haben nicht nur vorgespielt, wir haben auch zugeschaut... Abgesehen davon, daß die Leistungen der verschiedenen Schulen unterschiedlich gut waren, fiel mir etwas Gemeinsames bei den anderen auf. Sie zeigten immer rein menschliche Beziehungen und berücksichtigten in ihrer Darstellung nicht die gesellschaftlichen Verhältnisse und Widersprüche... Um aber diese Probleme erkennen und auf der Bühne darstellen zu können, braucht man gesellschaftswissenschaftliche Kenntnisse, und mir scheint, daß auf diese Kenntnisse bei den Studenten anderer Länder zuwenig Wert gelegt wird.» (9.58)

 

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Jürgen Reuter (r.) als Puntila und Manfred Richter als Knecht Matti

 

Manfred Richter, freischaffender Schauspieler, hielt fest: «Wir Studenten hatten Gelegenheit, in der Diskussion unsere Meinung zu sagen. Jürgen Reuter will den Puntila nicht spielen wie Leonhard Steckel oder Curt Bois und ich nicht den Matti wie Erwin Geschonneck. Aber das sind große Schauspieler und Bertolt Brecht und Erich Engel große Regisseure. Wir wollen nicht nachahmen, aber wir wollen von ihnen lernen...» (9.58a)

Klaus Hecke, Schauspieler am Berliner Ensemble, notierte damals: «Meine Sorgen und Zweifel waren völlig umsonst. Unser Erfolg in Stockholm beweist es. Aber sie waren doch berechtigt; denn woher sollte ich ahnen, geschweige denn wissen, daß den Demonstrationen der anderen Schulen das fehlte, was bei uns an erster Stelle steht: das bewußte Einsetzen der schauspielerischen Mittel, verbunden mit mehr oder weniger fundiertem Wissen, jedenfalls mit genauer Kenntnis der gesellschaftlichen Umwelt und der objektiven Realität... Viele ausländische Studenten sagten mir: "Ihr könnt euch froh und glücklich schätzen, in dem Staat zu leben, wo solch ein Theater gemacht wird, und an einer Schule zu studieren, wo man das erlernt." Ich meine, das ist schön, aber es ist auch verpflichtend.» (9.59)

Als die Delegation nach ihrer Rückkehr in Schöneweide den Lehrern und Studenten von ihren Erlebnissen berichtete, ließ es sich Walter Felsenstein, Intendant der Komischen Oper und Präsident des Zentrums DDR des ITI nicht nehmen, persönlich seine Glückwünsche zu überbringen. Er schätzte das pädagogische Wirken der Schule außerordentlich. In einem Interview sagte er: «Dort, wo ich mich an Hochschulen, die sich mit Theater beschäftigten, bisher überzeugt habe, ist eine brauchbare, verläßliche, tief durchdachte Methode für die bestmögliche Ausbildung begabter Leute leider selten zu finden. Das Beste, was ich kenne, ist die Schauspielschule in Berlin mit Penka.» (9.60)

Zu den Absolventen jener Jahre gehören 1965: Vera Albert, Renate Blume, Karin Freiberg, Angelika Philipp, Rosemarie Schelenz, Renate Usko, Isabella Wolters, Michael Gerber, Jürgen Kluckert, Michael Narloch, Eberhard Prüter, Frank Schenk, Thomas Vallentin, Giso Weißbach; 1966 u.a.: Hermann Beyer, Doris Gäbler, Jenny Gröllmann, Peter Hladik, Karl-Heinz Krause, Renate Krößner, Günther Kurze, Alexander Lang; 1967 u.a.: Christian Grashof, Michael Hengst, Uwe Kockisch, Horst Krause, Thomas Neumann, Jürgen Reuter und Heidi Weigelt; 1968 u.a.: Manfred Dietrich.

 

 

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Vera Albert, Absolventin 1965, später Lehrerin für Bewegungs-Unterricht

 

 

 

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Horst Krause           Michael Gerber    

 

 

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Karl-Heinz Krause       Uwe Kockisch

 

 

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Thomas Neumann als „Bruder Eichmann“ am Deutschen Theater Berlin

 

 

Anmerkungen:

 

9.56    Gerhard Piens, Vorwort, in: Stockholmer Protokoll, Berlin 1969, S. 5    Zurück zum Text

9.57    Rudolf Penka/Gerhard Piens, Symposium in Stockholm, Theater der Zeit, Berlin 1967, Heft 13    Zurück zum Text

9.58 Ebenda    Zurück zum Text

9.58a Ebenda    Zurück zum Text

9.59 Ebenda    Zurück zum Text

9.60    Walter Felsenstein, Oper als kollektive Aufgabe, in: Die Welt der Oper, Informationsblatt der Komischen Oper, Berlin, 3/1970, S. 45    Zurück zum Text

 

 

 

 

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