9. Die Herausforderung
Brecht (1962 – 1975)
Klaus-Dieter Klebsch
in dem Film „Der Lude“ mit Michèle Marian (Absolventin 1981)
9.11 Studenten in der „Kohlegewinnung“
Die
«genaue Kenntnis der gesellschaftlichen Umwelt und der objektiven Realität»,
worauf Klaus Hecke verwiesen hatte, das heißt, das Einbringen von Wirklichkeit
in die künstlerische Gestaltung, war für die Ausbildung und Erziehung des
Schauspielers zu einer unverzichtbaren Notwendigkeit geworden. So kam es immer wieder
zu Überlegungen, wie den Studenten auch während des Studiums Möglichkeiten
erschlossen werden könnten, das Leben kennen zu lernen, und zwar nicht
unbedingt das Nachtleben in Berlin – was sich ja ohnehin ergab -, sondern
Bereiche, die sich einem nicht so ohne weiteres erschlossen und sozusagen so
etwas wie den „Puls des Lebens“ darstellten.
Kurzzeitige
Studienaufenthalte in Industrie und Landwirtschaft während der dreijährigen
Ausbildung hatten sich nicht organisieren lassen, versprachen im Grunde auch nicht
den Effekt, auf den es ankam. Schließlich waren die meisten Studenten Arbeiter-
und Bauernkinder oder hatten einen abgeschlossenen Beruf. Es ging also durchaus
um markante, prägende Erlebnisse. Tagesbesuche im benachbarten Großbetrieb BMHW
(Berliner Metallhütten- und Halbzeugwerke) in Schöneweide vermittelten zwar
zunehmend einen lebendigen Eindruck vom Übergang von veralteter zu hochmoderner
Technik, aber echte Kontakte zu Brigaden ließen sich nur selten herstellen. Die
Kollegen vom BMHW bevorzugten in der Regel bereits prominente Berliner
Künstler.
Ende
der sechziger Jahre - ausgelöst durch das Interesse des Werkes - kam es
schließlich zu einer brauchbaren Beziehung zum Braunkohlenwerk «Jugend» bei
Lübbenau. Dorthin, zur „Kohlegewinnung“ in die tiefe Provinz, fuhr alsbald
grundsätzlich jeweils das 1. Studienjahr als Auftakt des Studiums, und zwar zu
einem anfangs vierwöchigen, dann dreiwöchigen Arbeitseinsatz.
Das
war ohne Zweifel ein ungewöhnlicher Studienbeginn für einen künstlerischen
Beruf. Der eigentliche Sinn solcher Begegnung mit der rauen Wirklichkeit eines
Tagebaues ging den angehenden Schauspielern meist erst sehr viel später auf.
Über die Jahre lernte der Betrieb, die Einsätze besser zu organisieren.
Schließlich war es im Interesse beider Seiten üblich geworden, die Studenten
auf Brigaden aufzuteilen, so dass vor Ort und über die Arbeit echte Kontakte
entstanden und die Menschen sich kennen lernten.
Es
gab einen außerordentlich wichtigen „Nebeneffekt“. Während des Einsatzes
erarbeiteten die Studenten in den Abendstunden ihr sogenanntes
«Einstands-Programm». Da entstand meist eine kunterbunte Estrade. Jeder brachte
ein, was er zu spielen, zu rezitieren, zu singen oder zu tanzen wusste. Der
Abend der Vorführung war gewöhnlich ein Höhepunkt des Einsatzes. Vor Ort, also
vor inzwischen vertrautem Publikum, stellten sich erste Erfahrungen im Umgang
mit Zuschauern her, auch zeigten sich meist Begabungen beim Konzipieren,
Probieren und Vorführen. Die Programme waren stets der «Einstand» auch in der Schule,
denn dort wurden sie selbstverständlich gezeigt. Und die Lehrkräfte hatten gute
Gelegenheit, sich noch einmal anzuschauen, was sie einmal ausgewählt hatten und
nun ausgebildet werden musste...
Albrecht Goette Hannelore Koch
In
der «Brücke», der Betriebszeitung des BKW «Jugend», veröffentlichte 1970 das 1.
Studienjahr — u.a. Hannelore Koch, Sabine Selle, Albrecht Goette, Wolfgang
Hosfeld, Klaus-Dieter Klebsch, Michael Pan und Christian Steyer — seine Bilanz,
in der es hieß: «Wir machten uns auf die Reise. Die unterschiedlichen Berufe,
wie Koch, Schlosser, Gärtner, Abiturienten und andere sind bei uns vertreten,
aber in der Grube hatte bisher keiner gearbeitet. Wir waren gespannt
auf die neue Arbeit, auf die Menschen, die wir kennenlernen würden, weil es
gerade für unseren künftigen Beruf wichtig ist, immer und überall neue Menschen
kennenzulernen... Natürlich war bei uns auch Skepsis vorhanden, wie immer, wenn
man vor einem Anfang steht. Wie würden uns die Kumpel empfangen?... Wir
arbeiteten in mehreren Brigaden im Gleisbau in der Kohlegewinnung Seese und
hatten nach kurzer Zeit viele Bekanntschaften geschlossen und die schwere
Arbeit der Kumpel am eigenen Leibe zu spüren bekommen. Auch wir Studenten
untereinander waren uns näher gekommen... Diese Beziehungen und die zu den
Kumpels werden sich in Zukunft weiter vertiefen...» (9.61)
Christian Steyer Wolfgang Hosfeld
Letzteres
geschah selten, hing von vielen Faktoren ab. Aber es konnte schon vorkommen,
daß sich zum «Tag des Bergmanns» Studenten auf den Weg machten, um ihren
Kumpels Blumen zu bringen. Hochachtung vor der Arbeit der Werktätigen - das war
ein wichtiges ethisches Ergebnis solcher Tage. Und es war üblich, daß Studenten
des 2. und 3. Studienjahres dann später zurückkehrten und im Kulturhaus des
Werkes mit Szenen und literarisch-musikalischen Programmen zeigten, was sie
inzwischen gelernt hatten. Auch wurden Brigaden nach Berlin eingeladen. In der
gleichen Ausgabe der «Brücke» berichtete eine Gruppe über ihren Besuch in
Schöneweide, wo sie der Generalprobe eines Programms beigewohnt hatte: «Etwa 60
Minuten verstanden es die angehenden Schauspieler, mit Wort und Gesang... zu
fesseln. Was sie darboten, war Beweis ihres bisherigen erfolgreichen
Studiums...» (9.62)
Ab
1977 musste das jeweils 1. Studienjahr aus übergeordnetem Interesse in den
Ernteeinsatz, so dass sich die Zusammenarbeit mit dem BKW «Jugend» in den
Studiengang nicht mehr eintakten ließ. Damit endete eine zweifellos
außergewöhnliche, aber durchaus produktive Methode, angehende Kunststudenten
mit Realität zu konfrontieren...
Zu
den Absolventen dieses Zeitraumes zählten auch Pierre Besson, Michael Kinkel,
Ute Kleindienst, Roswitha Marks, Henning Orphal und Bernd Vorpahl.
Zum
Lehrerkollegium Anfang jener siebziger Jahre gehörten: Prof. Rudolf Penka
(Direktor), Gerhard Ebert (Stellv. Direktor), Veronika Drogi, Wolfgang
Fleischmann, Prof. Dr. Ottofritz Gaillard, Otto Fritz Hayner, Heinz Hellmich,
Wera Paintner, Klaus Tews, Gertrud Elisabeth Zillmer (Schauspiel); Dr. Gerhard
Piens (Theaterwissenschaft); Barbara Bismark, Elisabeth Braun, Ingeburg
Honigmann, Klaus Klawitter, Herbert Minnich, Renate Minnich, Christa Pfeifer,
Hildegard Pürzel, Reiner Putzger, Hubert Scholz, Manfred Wünscher
(Sprecherziehung); Dr. Wilfried Markert (Diktion); Hildegard
Buchwald-Wegeleben, Eva-Marie Meinhardt (Bewegung); Maria Krebs (Musik);
Christof Walther (Fechten). Im Lehrauftrag unterrichteten u.a.: Ulrich Engelmann,
Horst Hiemer, Uwe-Detlef Jessen, Otfried Knorr, Wolfram Krempel, Dieter Mann,
Friedo Solter, Alexander Stillmark, Doris Thalmer, Werner Tietze, Hans-Georg
Voigt, Alexander Wikarski, Rolf Winkelgrund (Schauspiel); Horst Beeck
(Akrobatik); Eberhard Kube (Pantomime).
Barbara Schnitzler und Michael Pan in „Verschwörung der
Heuchler“
Anmerkungen:
9.61 Die Brücke, Betriebszeitung
des BKW „Jugend“, 2.10.1970 Zurück zum Text
9.62 Ebenda
Zurück
zum Text
Weiter zu „Studioinszenierungen“