8. Der neue Darsteller
(1951-1962)
8.3
Das Stanislawski-Seminar in der Krise
Die Einführung des Stanislawski-Seminars war ein enormer Fortschritt, vor allem dort, wo Pädagogen nicht als
Buchhalter, sondern als Sachwalter der schauspielmethodischen Intentionen des
Begründers des Moskauer Künstlertheaters (8.32) zu unterrichten wussten.
Aber es gab Schwierigkeiten. In einer
internen Analyse des Schauspielunterrichts aus dem Jahre
1952 hieß es: «Bei der Aufstellung des Lehr- und
Stoffverteilungsplanes für den Schauspielunterricht ist noch zu klären,
inwieweit eine Einschränkung des Etüdenunterrichts erforderlich ist, da das Etüdentraining die Schüler
nicht in dem erforderlichen Maße enthemmt. Die
Schüler müssen frühzeitig mit dem
Rollenstudium beginnen, und es schadet gar nichts, wenn sie dabei in ein übertriebenes Pathos verfallen. Es ist weit leichter, ihnen
dieses Pathos abzugewöhnen, als die mit schweren
seelischen Erlebnissen durch die Kriegszeit
belasteten jungen Menschen aus ihrer inneren Verkrampfung zu lösen. Darüber hinaus bleibt ein ausgedehntes Etüdenstudium zu sehr im Alltäglichen und Privaten stecken, denn die Schüler müssen jetzt lernen, ihre Worte künstlerisch zu gestalten. Und das können sie nur, wenn sie sich an der Sprache unserer Dichter schulen.» (8.33)
Der Zeitaufwand für das
Stanislawski-Seminar stand also in einem Missverhältnis zu
den erzielten Ergebnissen. Es schien damals ratsam,
das Seminar im gesamten ersten Studienjahr, und
zwar nach den vier Wochen Grundausbildung (im richtigen Atmen)
von Oktober bis Mai durchzuführen. Es bildete
die notwendige Vorstufe für die Arbeit an Rollen der Weltdramatik. Wenn es aber im Grunde gar nicht zu diesen Aufgaben
hinführte, waren Überlegungen
verständlich, es zu kürzen.
Am Theater-Institut in Weimar war die Nützlichkeit des Seminars immer wieder und nachdrücklich betont worden. Unter der Überschrift «Etüden als Grundlage des Schauspielunterrichts» äußerte sich Ottofritz Gaillard über die damaligen Erfahrungen:
«Die Etüde ist eine Stegreifszene, in der bestimmte Elemente des
Schauspielerischen erprobt werden. Sie ist eine Schule der Konzentration und der Phantasie, der Partneranpassung und der Erlangung des szenischen Selbstgefühls. Sie lehrt den
Schüler, daß eine Figur einen Willen und ein Ziel haben
muß, um das Recht zu bekommen, auf der Bühne zu
leben. Sie lehrt ihn, daß es zum Wesen der Schauspielkunst gehört, das "Ich
will" der Figur in
einer Handlung auszudrücken.» (8.34)
Gaillard stellte fest, daß eine gespielte Szene bestimmte Voraussetzungen im
"Lebenslauf" der Figur hat, Erlebnisvoraussetzungen, die eine Figur
veranlassen, sich in der Handlung so oder so zu entscheiden. Der Schauspieler muß von seiner Figur mehr wissen, als
die Figur von sich selbst weiß. Mit der Etüde
kontrolliert der Handelnde die Realität seiner Phantasie. «Die Etüde
zeigt durch das Verhalten der Figur, ob der Schauspielstudent die Gestalt, die er spielen will, gesellschaftlich wahr sieht,
wertet und gestaltet... Wenn der
Schauspielschüler die Aufgabe hätte, all diese Elemente gleich an einer Rolle
zu erarbeiten,... dann würde bei seinem Spiel nicht viel herauskommen. Die Etüden des Stanislawski-Seminars aber helfen ihm, diese Elemente des schauspielerischen Lebens nach und nach zu entdecken.» (8.35)
Der Begriff Etüde war nicht zufällig
gewählt worden. Grundsätzlich sollten die Schüler Abfolgen zu spielen
versuchen, die sie sich vorher ausgedacht und
im Detail genau festgelegt hatten. Auf der Bühne dann versuchten sie sich
fortwährend zu erinnern, was sie hatten machen wollen, waren also gar nicht
offen für die reale Spielsituation. Außerdem mußten
sie grundsätzlich mit vorgestellten Gegenständen handeln. Und schließlich ging
es vorrangig um das gefühlsmäßige Erleben dessen, was auf der Bühne entstand. (8.36)
Trotz aller Bemühungen in Weimar, die
nach damaligem Wissen und Vermögen praktizierte Unterrichtsmethode genau zu vermitteln, war der Spielraum
für Missverständnisse und Fehler groß. Das, was Lore Espey als Stanislawski-Seminar mit nach Berlin gebracht
hatte, das heißt, was sie an der Schauspielschule dafür ausgab, war offenkundig
nur ein schwacher Abglanz der Weimarer Praktiken.
So geschah es, daß in Berlin
das Stanislawski-Seminar, kaum neu eingeführt, auch schon in Misskredit und in
eine Krise geriet. «Ich weiß», berichtet Hildegard Buchwald-Wegeleben, «daß die Etüden zum ersten Mal von Lore Espey
probiert wurden. Sie machte ganz schreckliche Etüden... mit Zetteln zerreißen
und so... Die Studenten waren immer völlig gelähmt. Das ging über ein halbes
Jahr.» (8.37)
Christa Pasemann erinnert sich:
«Das Seminar zog sich über einen für mein Empfinden unzumutbar langen Zeitraum
hin. 1952/53 dauerte es von Mitte Oktober bis zum 19. Mai. Die Gruppen wurden
von Lore Espey und Friedel Nowack
angeleitet. Es hat uns weder Freude bereitet, noch glaube ich, daß wir Entscheidendes gelernt hätten. Wir mußten monatelang Stecknadeln sortieren, Öfen heizen,
Papier zerreißen, Hemden bügeln und anderes mehr. Alles mit vorgestelltem
Gegenstand. Selbst ein Bügelbrett mußten wir uns
vorstellen und immer schön auf gleicher Höhe bügeln, dabei "Knöpfe"
und "Ärmel" akkurat behandeln. Wir verkrampften
vor angestrengter Konzentration...» (8.38)
Eine ähnliche Einschätzung gibt Wilfried Markert. Nach
seiner Auskunft betrieb Lore Espey «mit Vehemenz die
sogenannte Übernahme der Stanislawski-Methode» in die Ausbildung. Sie machte
ein Seminar, «wo die Studenten sich stundenlang beschäftigten mit Papier
zerreißen und Stecknadeln auflesen und mit Übungen, womit sie einen ganz engen
Konzentrationskreis um sich spannten und sich nicht ablenken ließen durch
Erdbeben, Feuersbrunst und was auch immer. Und in ihrer Ausstrahlung, in ihrer
Persönlichkeitsentwicklung wurden sie immer kleiner, immer enger.» (8.39)
Anmerkungen:
8.32
Konstantin Sergejewitsch Stanislawski (1863-1938) gründete 1898 gemeinsam mit Nemirowitsch-Dantschenko das Moskauer Künstlertheater. Zum Ensemble gehörten W.E. Meyerhold und I.M. Moskwin. 1920 wurde dem Theater der
Titel «Akademisches Theater» (MCHAT) verliehen. Stanislawski
erforschte die Gesetze des schauspielerischen
Schaffens von einem
Standpunkt des Primats der
Gefühle und publizierte seine Erkenntnisse. Schriften: Mein Leben in der Kunst, Ethik, Die Arbeit des Schauspielers an sich selbst, Die Arbeit des Schauspielers an der
Rolle. Zurück
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8.33
Analyse d. Ausb.
an d. staatl. Schauspielschulen in d. DDR, Archiv M.f.K., Sign. Nr.
3004/1 Zurück
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8.34 Ottofritz
Gaillard, Etüden als Grundlage des Schauspielunterrichts, Theater der Zeit, Berlin 1951,
Heft 6, S. 35 Zurück
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8.35 Ebenda Zurück zum Text
8.36 Der Autor dieses Buches studierte von 1951 bis 1955 Theaterwissenschaft am Deutschen Theater-Institut (ab 1953 Theaterhochschule Leipzig). Die Theaterwissenschafts-Studenten nahmen im l. Semester in der
Schauspiel-Abteilung am Stanislawski-Seminar teil. Zurück zum Text
8.37
Gespräch m. H. ßuchwald-Wegeleben, a.a.O. Zurück zum Text
8.38 Christa Pasemann,
Versuch einer
Chronik der Schauspielschule Berlin 1951-1956, Diplom-Arbeit, S. 26, HS-Archiv Zurück zum Text
8.39
Gespräch m. Prof. Dr. Wilfried Markert v. 25.7.1985, Tonb.-Aufz.,
HS-Archiv Zurück
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