4. Alltag der Ausbildung (1920-1933)

 

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Szenische Arbeit

4.10  Der Spielplan

Ein Blick auf den Spielplan der Schule, (4.75) das heißt auf die Liste der Autoren, die vornehmlich für die Szenen-Unterrichte ausgewählt wurden, zeigt die Priorität der Klassiker. Das war ganz im Sinne des frühen Bekenntnisses Reinhardts aus dem Jahre 1901, dem er treu geblieben war und dem Held ebenso treu folgte. «Ja», hatte Reinhardt gesagt, «ich halte die Klassiker für den heiligsten Besitz des Theaters. Ich sehe in den Werken der klassischen Dichter den naturgegebenen eisernen Grundbestand des Repertoires. Und für mich beginnt Schauspielkunst erst da, wo sie sich in den großen klassischen Aufgaben bewährt... Schauspieler ist einer erst, wenn er bewiesen hat, daß er Shakespeare spielen kann.» (4.76)

 

So ist Shakespeare vertreten mit seinen Tragödien wie mit seinen Komödien, da sind Lessing, Goethe und Schiller. Der Spielplan spiegelt noch eine andere Erkenntnis Reinhardts, die über den Umgang mit den Klassikern hinausreicht: «Denn das ist unser Beruf: die Werke, die wir geerbt haben, immer wieder von Neuem zu erwerben, um sie zu besitzen. Das heißt: sie aus dem Geiste unserer Zeit wieder neu zu gebären. Unser Shakespeare ist ein anderer als der vor 400 Jahren, und schon der heutige Ibsen hat ein anderes Antlitz als der vor zwanzig Jahren... Werke jedoch auszugraben und auszustellen, ohne sie wieder beleben zu können, ist Leichenschändung oder, um es höflicher auszudrücken, die Sache von Museen oder Hoftheatern. Das lebendige Theater kann nur lebende Werke brauchen, gleichviel, ob sie der Gegenwart oder der Vergangenheit angehören.» (4.77)

 

 

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Studioaufführung von Goethes „Faust“

 

 

Der Unterricht an Szenen der Weltdramatik war also nie eine einfache «Turnübung» zum formalen Trainieren der schauspielerischen Mittel, sondern stets auch vom Bemühen durchdrungen, die angehenden Schauspieler zu befähigen, die überkommenen Werke für die Gegenwart zu beleben. Folgerichtig ist eine umfangreiche Autorenliste. Auf ihr finden sich - und es können hier nicht alle aufgezählt werden — Anzengruber und Bahr, Büchner und Calderon, Dostojewski und Dumas, Ernst, Freytag und Goetz, Hasenclever und Hauptmann, Hebbel und Hofmannsthal, Ibsen und Kaiser, Kleist und Laube, Iffland und Moliere, Schnitzler und Schönthan, Shaw und Strindberg, Sudermann und Tschechow, Wedekind und Werfel, Aristophanes und Sophokles.

 

Der Umgang mit dieser Dramatik — abhängig natürlich von der Eignung der jeweiligen Lehrer — erfolgte nie nach nur einem Stilprinzip. Für die Schule galt, was Reinhardt so formuliert hatte: «Es wäre eine ebenso barbarische wie den Grundlagen der Theaterkunst unangemessene Theorie, den gesamten wundervollen Schatz der Weltliteratur über einen und denselben Leisten schlagen und in eine einzige Form pressen zu wollen. Allein solch ein Vorschlag wäre ein typisches Beispiel für pedantische Scholastik.

Es gibt keine Form des Theaters, die die einzig wahre künstlerische Form wäre... Seine Aufgabe ist es, das Wort aus dem Grab des Buches herauszuheben, ihm Leben einzuhauchen, es mit Blut zu erfüllen, mit dem Blut von heute, und es damit in eine lebendige Beziehung zu uns zu bringen, so daß wir es aufnehmen und es in uns Frucht tragen lassen. Das ist der einzige Weg; einen anderen gibt es nicht. Alle Wege, die uns nicht in das Leben führen, führen uns vom rechten Weg ab, wie sie auch immer heißen mögen. Leben ist der unvergleichliche und wertvollste Besitz des Theaters... Unsere Norm muß nicht darin bestehen, ein Stück so zu spielen, wie es in den Tagen seines Autors gespielt wurde. Solche Gesichtspunkte interessieren den gelehrten Historiker und nützen nur dem Museum. Wie ein Stück in unserer Zeit lebendig gemacht wird, das ist für uns entscheidend.»  (4.78)

 

Dazu setzte Reinhardt 1929 einen Akzent, der nicht übersehen werden sollte: «Wenn in das moderne Theaterstück soziale und politische Ideen hineingetragen werden, so halte ich das für einen großen Gewinn der Bühne. Es ermöglicht uns auch, von den ewigen Liebesgeschichten, Dreiecksstücken und ähnlichen seichten Problemen wegzukommen... Daß wir durch den Weltkrieg und die Revolution hindurchgegangen sind, kann und soll man auch den Theaterstücken anmerken.» (4.79) Reinhardt wollte das durchaus nicht nur als einen Hinweis für Autoren verstanden wissen, sondern hatte Regisseure wie Schauspieler im Auge, nicht zuletzt die Schauspiellehrer.

 

 

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Theorie und Szene

 

 

 

Anmerkungen:

 

4.75  Festschrift Fünfundzwanzig Jahre Schauspielschule des Deutschen Theaters zu Berlin, Berlin 1930, S. 86/87    Zurück zum Text

4.76  Max Reinhardt, Schriften, Berlin 1974, S. 66     Zurück zum Text

4.77  Ebenda, S. 309     Zurück zum Text

4.78  Ebenda, S. 335     Zurück zum Text

4.79  Ebenda, S. 345     Zurück zum Text

 

 

 

 

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