5. In dunkler Zeit (1933 – 1945)
5.6
Schürmann-Horsters kühner Vortrag
Nach Ausbruch des Krieges kam es in
Verantwortung von Hugo Werner-Kahle zu einer
Veranstaltung für Lehrer und Schüler, die den
Nazis nicht verborgen geblieben sein kann. Am 3. Juli 1941, wenige Tage nach dem heimtückischen Überfall Deutschlands
auf die Sowjetunion, hielt der kommunistische
Schauspieler und Regisseur Willy Schürmann-Horster (5.50) einen
Vortrag, mit dem er - natürlich nicht offen als Marxist
auftretend — im Grunde einen Ausblick gab auf
realistische Theaterarbeit nach dem Ende der Nazidiktatur. Der Kontakt zwischen Schürmann-Horster und Werner-Kahle geht auf die Zeit zurück, als Goebbels die «Theaterakademie» zu gründen trachtete. Damals,
mit Datum vom 3. Juli 1938, schrieben Willy
Schürmann-Horster und Harald Quedenfeldt (5.51) einen Brief an ihren Freund Armin, (5.52)
in dem sie vorsichtig Erfahrungen und Absichten
im illegalen Kampf austauschten und in dem es hieß:
«Das Exposé "Studio" führte als ersten etwas
positiven Erfolg herbei, daß Werner-Kahle, der Leiter der Schauspielschule des
"Deutschen Theaters", sich für Willy scheinbar interessierte und ihn
für einen Vortrag vor sich und seinem Lehrerkollegium über das Thema "Don
Carlos" vorsah, um evtl. zu einem Lehrvertrag mit Willy zu kommen... Nun,
in den nächsten Tagen soll Willy voraussichtlich mit Werner-Kahle
zusammenkommen..» (5.53)
Wie oft dies geschehen ist, läßt sich nicht mehr
eruieren. Zu einem Lehrvertrag kam es nicht, möglicherweise, weil Werner-Kahle
letztlich doch zurückschreckte. Aber der Vortrag wurde gehalten. (5.54)
Es war der letzte öffentliche Auftritt von Willy Schürmann-Horster, der ihn
noch einmal als einen politisch kühnen, marxistisch gebildeten und erfahrenen
Theatermann auswies. Der im Manuskript 42 Schreibmaschinen-Seiten umfassende
Vortrag kann hier nur sehr knapp referiert werden. (5.55)
Eingangs versprach Schürmann-Horster, mit seiner Betrachtungsweise «das
Bewußtsein dominierend über das Fingerspitzengefühl» zu stellen mit dem Ziel,
beide «Faktoren in folgerichtiger Wertung» als eine «geistige Haltung»
vorzustellen, «die dem Ringen um die Sache der Kunst — und in diesem Falle
insbesondere der Kunst des Theaters - zweckdienlich ist.»
Und er fuhr fort: «Zweckdienlich und zweckmäßig oder aber
auch nützlich, so sollten zuwenigst alle Funktionen der menschlichen
Gesellschaft ausgerichtet sein. Und da der Begriff der Funktionen durchaus
umfassend gemeint ist, so kann auch die Kunst nicht anders, als von der
Plattform der Zweckmäßigkeit aus beurteilt und betrachtet werden. - Freilich,
ich weiß sehr wohl, daß dies für manchen eine recht unbequeme Forderung ist,
denn diese zweckmäßige Betrachtungsweise muß ja verlangen, daß jedwedes
Kunstwerk von seiner (erschrecken Sie bitte nicht) Tendenz aus zu uns spricht
und auch von daher erfaßt wie beurteilt sein will, so daß also im Endeffekt
Inhalt und Form eines Kunstwerkes unteilbar miteinander verbunden sind und
seine geistige Haltung repräsentieren.»
Dann bat Schürmann-Horster seine Hörer, seinen
«Ausführungen mit dem Willen zur Stärkung Ihres kritikfähigen Denkens zu folgen und dabei das Leidenschaftliche Ihres
Seins auf die sachliche Tendenz des künstlerischen Schaffens zu lenken.»
Er betonte, sich nicht an die «so häufig
propagierte Theaterbesessenheit in Ihnen» zu wenden, sondern an «Ihr
Bewußtsein, Ihre Leidenschaft und dies gewisse Fingerspitzengefühl...»
Schürmann-Horster wandte sich dem «Stempel des
Unbefriedigtseins» zu, den die Schüler in sich tragen, und erklärte, er
verspreche sich nichts davon, «diese Dinge
etwa auf psychoanalytischem Wege zu klären...» Offen sagte er: «Diese
Regungen des Unbefriedigtseins liegen bewußt
oder unbewußt in einem soziologischen Vorgang, nämlich der geistigen Not
und der geistigen Krise! Und Dinge, die begründet
liegen in Mängeln wie Unzulänglichkeiten
der Gemeinschaft und deren Lebensgestaltung, kann man niemals fruchtbar
endgültig beseitigen oder korrigieren durch die Suche nach dem persönlichen
Ausweg. — Die Erkenntnisse der modernen Gesellschaft haben zu dem
bündigen Beweis geführt, daß ein biologischer
Vorgang vom soziologischen nicht zu
trennen ist, und daß beide Vorgänge in
Wechselbeziehungen zueinander stehen. In
diesem Sinne ist auch das Individuum nicht denkbar ohne seine Umwelt (in diesem
Falle die Gemeinschaft), wie umgekehrt
keine Gemeinschaft lebensfähig ist, wenigstens auf die Dauer nicht lebensfähig
ist, die nicht über eine höchstmögliche Anzahl von Individuen, d.h. in diesem Falle Persönlichkeiten verfügt.»
Schürmann-Horster sprach dann über
das Nachahmungsbedürfnis als «eine ziemlich allgemeingültige
Eigenschaft des Menschen», über die «technische
Beherrschung» des Handwerks als «durch Fleiß
zu erwerbende notwendige Voraussetzung zur Ausübung eines künstlerischen
Berufes». Er stellte den «sogenannten Blutschauspieler» in Frage, auch den «Gefühlsschauspieler» und forderte
eine geistige «Haltung im Theaterleben, die jenseits des bisher Bekannten
liegt, und die es dringend not tut zu
wecken und zur praktischen Anwendung zu bringen.»
Er benutzte die Szene zwischen Philipp und Posa aus
Schillers «Don Carlos», um «die schauspielerischen Aufgaben der Gegenwart» zu
erläutern, verbunden mit der Forderung nach dem «Geiste einer modernen und
revolutionären Denkweise», die nur möglich sei, «wenn man aus der Erkenntnis
der Zusammenhänge heraus zu denken vermag...» Schürmann-Horster bekannte sich
zu Posas Argument «Die Notwendigkeit wird menschlich sein» und fuhr fort: «Wie
schon einmal betont, bringt alle große Dichtung ihre Sehnsucht nach der
Menschwerdung zum Ausdruck und befindet sich in unerbittlicher Kampfansage
gegen jedwede Tyrannei wie jeglichen Despotismus».
Er erklärte es als einen Fehler, wenn Bühnenvorstände
«eine Art von Priesterkaste» bilden. «Bühnenvorstände, die Angst davor
bezeugen, daß ihre Mitarbeiter geistig zu regsam sein könnten, bekunden ein
hohes Maß von Mangel an Überzeugung, ein hohes Maß von Unsicherheit in bezug
auf ihr eigenes Wissen und Können...» Er wies darauf hin, «daß sogenannte Lese-
und Stellproben der Todfeind jeder geistigen Theaterkultur sind. Diese Proben
sollten wegfallen und ersetzt werden durch die gemeinsame Diskussion über das
zu gestaltende Werk, über seine geistigen Zusammenhänge, über seine
beabsichtigte Wirkung, seinen Handlungsverlauf, seine Charakterisierung, die
Besetzung der Rollen und über szenische Atmosphäre, Gewand und Maske».
In sieben Thesen formulierte
Schürmann-Horster Forderungen an den jungen Schauspieler, (5.56)
ging schließlich zu einem Vergleich mit dem alten Griechenland über und
schlußfolgerte, «daß in der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft bis zum
heutigen Tage diese Harmonie nicht mehr erreicht wurde und daß es eines
entschieden revolutionären Vorganges in der menschlichen Geschichte der
Gegenwart bedarf, um die Kultur des alten Griechenlands nicht nur zu vollenden,
sondern sogar zu überbieten».
Er schloß seinen Vortrag mit den Worten: «Darum
entschließen und entscheiden Sie sich, meine jungen Kolleginnen und Kollegen,
schnell, intensiv, tatkräftig, damit der Weg frei wird, der aus tiefer Nacht in
die Morgenröte führt, über der es leuchten soll: "Und die Notwendigkeit
wird menschlich sein."» Unverkennbar, dieser Vortrag hatte nicht nur eine
theaterästhetische, er hatte auch eine politische Stoßrichtung.
Hans-Joachim Kulenkampff (l.),
Irene Weiß, Tom Engel (r.), Absolventen 1942/43
Noch eine weitere Aktivität Hugo Werner-Kahles mag das
Mißfallen der Nazis erregt haben, nämlich seine Orientierung auf den
sowjetischen Theaterregisseur Stanislawski. «Die Übertragung eines Teils des
A-Klassen-Unterrichts an Herrn Hans Halden im Dezember 1941», so berichtet Hugo
Werner-Kahle, «brachte eine Neuordnung des Anfänger-Unterrichts mit sich, für
welche Stanislawskis Methode "Psychotechnik", wie sie sein bekanntes
Buch "Vom Geheimnis des schauspielerischen Erfolges" entwickelt, zur pädagogischen
Grundlage wurde. Halden hatte sich in wiederholten Gesprächen mit mir für den
Versuch, sie auf unsere deutschen Verhältnisse anzuwenden, eingesetzt und mir
seine Ansichten auch in Aufsatzform zugehen lassen. Ich ging
völlig konform mit ihm.» (5.57)
Auch Heinz Hilpert wirkte von Jahr zu Jahr weniger nach
den Wünschen der faschistischen Behörden. Am 14. Juli 1942 meldete Referent
Frenzel seinem Minister: «Es zeigt sich für mich in zunehmendem Maße, daß
Hilpert ein eigentliches Verhältnis zur Gegenwartsproduktion nicht hat...» (5.58) Und im Mai 1943 wurde im Reichsministerium für
Volksaufklärung und Propaganda «streng vertraulich» notiert: «... daß der Herr Minister
wünsche, Leiter T solle Hilpert unter eine Art kulturpolitisches Kuratel
stellen, mit anderen Worten: ein besonderes Augenmerk dem nicht immer richtig
liegenden Deutschen Theater angedeihen lassen...» (5.59)
Anmerkungen:
5.50
Olaf Barutzki: „Willy Schürmann-Horster... war Schauspieler,
Regisseur, Dramaturg, hervorragender marxistischer Praktiker und Theoretiker des Theaters, Leiter revolutionärer Theater-Truppen und antifaschistischer Widerstandskämpfer in der Schulze-Boysen/Harnack-Organisation...
Ich lernte ihn am 21. August 1943, am Tage der Verkündung seines Todesurteils, kennen, als er zu mir in die
Zelle gelegt wurde. Ich war schon seit März
in Plötzensee auf der TU (Todesurteil)-Station Haus III... Wir hatten schnell guten Kontakt miteinander, kamen aus den
gleichen Wirkungskreisen, er von der
"Truppe im Westen", ich von der Piscator-Bühne
Berlin... Am 9. September wurde Willy Schürmann-Horster
von meiner Seite gerissen.» Olaf Barutzki, Die
Theaterkunst nutzte er als geistige Waffe,
Neues Deutschland, Berlin
21./22.6.1980 Zurück
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5.51
Harald Quedenfeldt war Bühnenbildner, W. Schürmann-Horster Regisseur der «Truppe im Westen»
5.52
«Freund Armin» war Armin Wagner, Mitglied der «Truppe im Westen»
5.53
Brief v. Harald Quedenfeldt und Willy Schürmann-Horster v. 3.7.1938 an Freund Armin, Archiv Schürmann-Horster, im Besitz v. O. Barutzki
5.54
Olaf Barutzki nennt die Frau Schürmann-Horsters als Zeugin: «Nach dem Krieg habe ich in
ständigem Kontakt mit ihr gestanden. Aus Anlaß der Arbeit an meinem Buch über Schürmann-Horster habe
ich sie nochmals befragt nach diesem Vortrag.
Und da hat sie mir bestätigt, daß der Vortrag öffentlich war in einem Konzertsaal im heutigen Westberlin. Sie hat den Vortrag mit angehört, es
waren so 50 bis 80 Leute anwesend.»
Gespräch m. O. Barutzki v. 2.1.1 986, Tonb.-Aufz.,
Archiv G. Ebert Zurück
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5.55
Die Abschrift des Originals befindet sich im Archiv Schürmann-Horster, im Besitz v. O. Barutzki. Zurück zum Text
5.56
Er plädierte
1. für «ein stets selbständiges Denken». 2. sprach er sich gegen «vieles Lesen» aus, das «Halbbildung» zur Folge habe, vielmehr sollte «bei den Grundproblemen des menschlichen Denkens»
angefangen werden. Nicht «das, was ich weiß, ist entscheidend, sondern wie ich
es weiß und praktisch anwende...» 3. sollen sich die Schüler nicht blenden
lassen «von dem mit Geist verwechselten
Asphaltintellekt». 4. sollen sie sich
nicht einfangen lassen «von dem mit Natur verwechselten Gefühlssumpf.» 5. empfiehlt er, «sich mit den Ergebnissen der exakten Naturwissenschaften» zu
beschäftigen. 6. rät er, «die kleinbürgerliche Moral» zu vermeiden. 7. legt er
den Schülern ans Herz: «Suchen Sie
immer die Ergebnisse Ihres Denkens und Ihrer Erkenntnis regelmäßig zu verwerten und zu vertiefen in einer
Gemeinschaft von Menschen, in der Sie
durch Nehmen und Geben gleichsam profitieren.» Zurück zum Text
5.57
Stadtarchiv Berlin, Sign. Rep. 120, Akte-Nr. 2432, Anlage
5.58
Zentrales Staatsarchiv Potsdam, Promi, Akte-Nr. 278, Bl. 275
5.59
Ebenda, Bl. 357 Zurück zum Text
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