4. Alltag der Ausbildung
(1920-1933)
4.13 Woldemar Runge – der neue Sachwalter
Bereits ab 1. März 1931 wurde
Woldemar Runge für ein monatliches Gehalt von 750 Mark mit der
Leitung der Schauspielschule beauftragt. (4.99) Er hatte
seinerzeit gemeinsam mit Berthold Held Sommerdirektionen am Deutschen Theater
organisiert und war nach dem Tode von Ferdinand Gregori auf ausdrücklichen
Wunsch Reinhardts eingestellt worden, der am 13. Dezember 1928 aus Paris an
Held telegrafiert hatte: «bitte dich herzlich für erschreckend plötzlich
verstorbenen gregori unseren alten freund runge einzustellen den vieljährige
praktische erfahrung als buehnenleiter regisseur ungewoehnliche musikalitaet
kuenstlerische intelligenz und seine innere zugehoerigkeit zu uns besonders
berechtigen... reinhardt» (4.100)
Nachdem Runge unverzagt
gearbeitet hatte, aber offensichtlich recht allein gelassen worden war, schrieb
er per Einschreiben an Reinhardt nach Wien ans Theater in der Josefstadt:
«Lieber Max! Seit zwei Monaten leite ich nun provisorisch die Schauspielschule
und habe noch nicht die Zeit finden können, Dir für die Berufung auf diesen
schönen und verantwortungsvollen Posten, wodurch Du mir einen neuerlichen Beweis
Deiner Freundschaft gegeben hast, meinen herzlichen Dank auszusprechen.» Er
berichtete ihm sodann von den Vorbereitungen des neuen Schuljahres: «Vor dem
Lehrer-Kollegium hat bereits eine Vorprüfung stattgefunden. Das Resultat war
günstig, ca. 40% der Bewerber wurden als talentvoll befunden und für die
Hauptprüfung im August vorgemerkt. Bleiben die Prüfungsergebnisse weiter so
günstig, so können wir im nächsten Schuljahre mit einem größeren und besseren
Schülerbestand rechnen als im laufenden.» Dann weiß er von allerlei Gerüchten
hinsichtlich des Schicksals der Schule, äußert Beunruhigung und fährt fort:
«Falls Du nun den Fortbestand der Schule am bisherigen Ort und im großen und
ganzen auch in bisheriger Form billigst, möchte ich Dich recht sehr bitten, mir
doch zu meiner Beruhigung und Sicherheit sobald als möglich zu bestätigen, daß
Du mir nicht nur provisorisch, sondern auch dauernd die Leitung der Schule übertragen hast...» (4.101)
Über seine Direktoren muß Reinhardt positiv reagiert
haben, denn Runge ging alsbald daran - gewiß auch als zusätzliche
Einnahmequelle! - einen Regiekursus einzurichten. Nach 1905 hatte es bereits
einen solchen Versuch gegeben, der aber «rasch wieder aufgegeben wurde». (4.102) Vorsorglich erbat sich Runge bei Direktor Herold die
Möglichkeit für «zwölf berufstätige und reifere Damen und Herren» seiner
Regieklasse, «ab und zu Theaterproben beiwohnen zu können», denn es «würde eine
wesentliche Erweiterung und Vertiefung des Unterrichts
bedeuten...» (4.103)
Als ein gewisser Gradmesser für die Situation kann ein
Brief von Gertrud Borck angesehen werden, den sie im Juni 1931 an die Witwe
Helds richtete. Die Sekretärin, bereits sechs Jahre an der Schule tätig,
schrieb: «Am Freitag hatten wir die Übergangsprüfung der A-Schüler, am
Sonnabend die Generalprobe der B-Klasse, die am Montag und Dienstag ihren
letzten Szenen-Abend hatten. Wir haben den 1. Akt aus der "Widerspenstigen
Zähmung", den 1. Akt aus "Emilia Galotti", den 4. Akt aus
"Florian Geyer" und ein unbekanntes Zwischenspiel von Cervantes
"Das Wundertheater" gespielt, alle vier Sachen im Kostüm, da gab es
auch für mich viel Arbeit, aber wenigstens war es ein guter Abschluß für die
Schüler. Sie haben der Schule Ehre gemacht und wir hätten ruhig den Mut haben
sollen, die Schüler der Berliner Presse vorzustellen. Vielleicht wäre es ganz gut gewesen, wenn manchen Leuten die Existenz der Schule
wieder zum Bewußtsein gekommen wäre.» (4.104)
Die Existenz der Schule war in der Tat immer wieder neu
zu behaupten, nicht nur nach außen. Im November 1931 beklagte sich Runge beim
Regisseur Heinz Hilpert: «Als gestern Abend eine große Anzahl von Schülern der
Schauspielschule und meine Wenigkeit die Generalprobe besuchen wollten, fanden
wir die Türen verschlossen und der Einlaß wurde uns kategorisch — wie es hieß
auf Ihre persönliche Anordnung hin - verwehrt.» Er selbst, schrieb er weiter,
sei schließlich noch eingelassen worden. «Aber die Schüler! Die Schule ist ja
dem Deutschen Theater angegliedert, sie ist finanziell und ideell an das
Deutsche Theater gebunden und ganz besonders ideell. Das Deutsche Theater
bedeutet unseren Schülern den Inbegriff alles Höchst-Erreichbaren, dem sie
nachzustreben suchen. Es ist ihr Ideal, vielleicht noch das einzige, das sie in
diesen unerquicklichen Zeiten behalten haben.» (4.105)
Die unerquicklichen Zeiten! Zehnprozentige
Gehaltskürzungen für die Lehrkräfte der Schule im März 1932 waren da noch ein
kleines Übel. (4.106) Direktor Adamec hatte den Auftrag
von Reinhardt, den Betrieb des Deutschen Theaters radikal abzubauen. (4.107) Nach dem Börsenkrach von 1929 in New York hatte sich
die schwere Wirtschaftskrise rasch über die gesamte Welt ausgebreitet.
Deutschland war besonders betroffen. Zahllose Firmen gingen bankrott. Die
Arbeitslosigkeit stieg auf über sieben Millionen. Im Juli 1932 setzten
Reichspräsident von Hindenburg und die offen reaktionäre Reichsregierung von
Papen mit einem Staatsstreich die von Sozialdemokraten geführte Landesregierung
in Preußen ab. Ein Generalstreikangebot der KPD wurde von der SPD abgelehnt.
Im Vorfeld dieser ökonomischen und politischen Zuspitzung
der Lage in Deutschland verließ Max Reinhardt Berlin. Im April 1932 erklärte er
in einer Rede zur Übergabe der Direktion des Deutschen Theaters und der
Kammerspiele an Dr. Rudolf Beer und Karlheinz Martin u.a.: «Mein Entschluß
wurzelt... in einer tiefen und mehr und mehr unüberwindlich gewordenen
Abneigung gegen das Unternehmertum... die im Gegensatz zu früher total
veränderten und in jeder Beziehung schwieriger gewordenen Verhältnisse fordern
neue Männer mit neuen Methoden... Das Deutsche Theater ist das einzige
künstlerische Privattheater in der Welt, das sowohl unter meinen Vorgängern
Brahm und L'Arronge als auch unter meiner Direktion sich ohne jede Subvention
und daher frei von jeder politischen und parteilichen Bindung aus eigenen
Mitteln erhalten hat. Hier sind die Klassiker immer wieder erneuert worden.
Hier sind Büchner und Lenz, Hauptmann, Ibsen, Strindberg, Wedekind, Bernard Shaw,
Tolstoi, Maeterlinck, Georg Kaiser, Sternheim, Werfel, Bruckner, Zuckmayer,
Brecht und Horvath dem lebendigen Spielplan einverleibt worden... Man kann
sagen, es war der Spiegel und die abgekürzte Chronik seiner
Zeit.» (4.108)
Für seine Schauspielschule fand Reinhardt auch diesmal
kein Wort. Noch einen Monat zuvor, im März 1932, hatte sie sich mit einem
Goethe-Abend auch öffentlich gezeigt. Woldemar Runge hatte das Vorspiel auf dem
Theater aus dem «Faust» mit Herwig Walter (Direktor), Rudolf-Günter Wagner
(Theaterdichter) und Fritz Thau (Lustige Person) einstudiert, Emil Lind Szenen
der Gretchen-Tragödie mit Gisela von Collande.
Gisela von Collande
Jahresbericht
1931/32 der Schauspielschule
Anmerkungen:
4.99 HS-Archiv, Bl. 448 Zurück zum Text
4.100 HS-Archiv, Bl. 534 Zurück zum Text
4.101 Brief v.
Woldemar Runge an Max Reinhardt v. 27.4.1931, HS-Archiv, Bl. 440/441
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4.102 Berliner Börsen-Zeitung, 21. August
1924 Zurück
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4.103 Brief v. Woldemar Runge an Heinz Herold v. 8.10.1931, HS-Archiv, Bl. 425
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4.104 Brief v. Gertrud Borck an Frau Held v. 4.6.1931, HS-Archiv, Bl. 693. Die A-Schüler waren die Eleven des 1. Studienjahres, die B-Klasse das 2.
Studienjahr. Was die Presse betrifft,
von der G. Borck spricht, sei hier eine
Meinung angemerkt: «Man wird zum Schüler-Szenen-Abend
einer Theaterschule eingeladen... Problemstellung: Welches Interesse hat die Öffentlichkeit an den Vorführungen einer
Theaterschule? Eigentlich keines; es
sind interne Dinge für die Fachleute
und die Beteiligten...», in: Berliner Börsen-Zeitung, 27. Mai 1924 Zurück zum Text
4.105 Brief v. Woldemar Runge an Heinz Hilpert v. 2.11.1931, HS-Archiv, Bl. 422 Zurück zum Text
4.106 Brief v. Woldemar Runge an
Heinz Adamec v. 11.3.1932, HS-Archiv,
Bl. 406. Die Leitung der Schule versuchte, besondere
Einnahmen zu machen. Am 28. Januar 1932
meldete der Berliner Börsen-Courier: «In der Schauspielschule des Deutschen Theaters begann
am Montag... der zweite Lehrkurs für
freie Redner (Anwälte, Geistliche, Lehrer, Studierende usw.).» Zurück zum Text
4.107 Max Reinhardt, Schriften, Berlin 1974, S. 132 Zurück zum Text
4.108 Max Reinhardt, Schriften, a.a.O., S. 132 Zurück zum Text
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