8. Der neue Darsteller
(1951-1962)
Lore Espey,
kommissarische
Direktorin von 1953 bis 1955
8.2 Plötzlich hat man hundert Arme und Beine
«Das Büro der Staatlichen
Schauspielschule in Schöneweide betrat ein junges Mädchen, blaß, übernächtigt, mit zerzaustem Haar... Es war ein Mädchen,
das kaum jemals mit dem Theater in Berührung
gekommen war, das seine Welt nur aus Büchern
und Zeitungen kannte und in ihrem heimatlichen Dorf gemeinsam mit ihrem
Bruder eine Laienspielgruppe gebildet hatte.
Es war immer ihr Wunsch gewesen, Schauspielerin zu werden. Aber der Hof des Vaters brauchte Arbeitskräfte. Dann waren sie der Produktionsgenossenschaft beigetreten, und jetzt bestand die Möglichkeit, daß
eines der Geschwister
den Hof verließ.» (8.17) Die Reportage in der «National-Zeitung am Mittag» aus dem Jahre 1953 zeigt die Anteilnahme, die die
Öffentlichkeit an der Nachwuchsförderung nahm, auch das Bemühen, Kinder von Arbeitern und Bauern für diesen
Beruf zu interessieren.
Über den Studiengang war zu lesen:
«Der Unterricht beschränkt sich in den ersten sechs Wochen auf
Bewegungsunterricht, auf die Schaffung der natürlichen und meist verkümmerten
Vollatmung als Fundament, dann setzt die Sprecherziehung ein, das
Stanislawskiseminar führt zur richtigen Bewegung auf der Bühne, Partneretüden
und kleine Szenensituationen, bei denen das dichterische Wort vorläufig hinter
der Handlung zurücktritt, beschließen das erste Studienjahr. Im zweiten Jahr
stehen wöchentlich zwölf Stunden Szenenstudium auf dem Plan. Mit Zeitstücken,
die Menschen unserer Zeit in Aktion zeigen, wird begonnen, dann folgen die
Klassiker, und zum Abschluß des Jahres muß der künftige Schauspieler in der
Lage sein, in jeder Rolle "da zu sein", das heißt, er muß gelernt
haben, sich voll und ganz in den darzustellenden Menschen zu verwandeln. Das
dritte Studienjahr endlich vertieft die gewonnenen Erkenntnisse und lehrt, sie
souverän anzuwenden. Es versteht sich, daß die theoretische Ausbildung alle
drei Jahre umfaßt, daß Zwischenprüfungen die Entwicklung des einzelnen
ermitteln und daß die Ausbildung in einer
Abschlußprüfung vor der Kommission und geladenen Gästen gipfelt.» (8.18) Aus dem Pressebericht ist zu entnehmen, dass die
Weimarer Pädagogenkonferenz ausgewertet worden war.
In der Leitung der Schule hatte es inzwischen einen
Wechsel gegeben. (8.19) Seit 16. Mai 1953 amtierte
Lore Espey als kommissarische Direktorin. Sie war am Theater-Institut in Weimar
Sprecherzieherin gewesen, Anfang 1952 nach Berlin gekommen und versuchte sich
nun als Schauspiellehrerin. Als Leiterin nahm sie die Geschäfte energisch in
die Hand. In ihre Amtszeit fällt ein Höhepunkt in der Zusammenarbeit mit Paul
Dessau. Er unterrichtete im Lehrauftrag Musik und probierte sein biographisches
Poem «Lilo Herrmann» (Text: Friedrich Wolf) mit Studenten praktisch aus. «Die
"Lilo" war damals noch nicht fertig», schreibt Christa Pasemann. «Er
hat sie vervollständigt nach den Erfahrungen mit uns... Dessau war streng und
sehr direkt in seiner Kritik. Die Chöre sangen Studenten aller Studienjahre.» (8.20) Das Werk wurde unter Paul Dessaus Leitung während
des II. Deutschlandtreffens der Jugend in den Kammerspielen des Deutschen
Theaters am 6. Mai 1954 uraufgeführt.
Paul Dessau
Lore Espey vertrat die Schule auf einer
Direktorenkonferenz in Dresden, die die Aufgabe der Schulen zum Thema hatte,
«eine neue Künstlerintelligenz, besonders aus den Reihen der
Arbeiter und Bauern heranzubilden». (8.21) In der
Diskussion auf dieser Konferenz erregte Margrit Glaser von der
Theaterhochschule Leipzig (8.22) heftigen Widerspruch.
Sie hatte zum Ausdruck gebracht, «daß die Aufnahme von Arbeiter- und
Bauernkindern für ein Schauspielstudium ein besonders schwieriges Problem sei.
Sie vertrat die Meinung, daß die Arbeiterkinder zu einem künstlerischen Beruf
weniger Eignung als zu einem technischen haben.» (8.23)
Ihr wurde entgegnet, «daß es keine unmusikalisch geborenen Kinder gibt.» (8.24) Es komme nur darauf an, die Begabung zu fördern und
zu entwickeln. Prof. Armin-Gerd Kuckhoff war «ebenfalls der Meinung, daß sich
unsere Arbeiter- und Bauernkinder weniger zu einem künstlerischen Beruf eignen.
Diese Tatsache ist aber zu einem Teil darauf zurückzuführen, daß die Arbeiter-
und Bauernkinder zu wenig von dem künstlerischen Beruf wissen.» (8.25) Auch Lore Espey ergriff das Wort: «Ich glaube...
nicht», sagte sie, «daß Frau Prof. Glaser der Meinung ist, daß die Arbeiter-
und Bauernkinder nicht künstlerisch begabt sind, sondern daß es hier
Schwierigkeiten, angefangen in der Allgemeinbildung, gibt. Wir mußten feststellen,
daß oft interessierte Arbeiter- und Bauernkinder heimlich zu uns gekommen sind,
weil in den Betrieben und im Elternhaus die richtige Erkenntnis nicht vorhanden
ist zu begreifen, was es heißt, Schauspieler zu werden und zu
sein.» (8.26)
Horst
Weinheimer
Einen solchen Weg zum Schauspielerberuf schilderte die
«Tägliche Rundschau». Sie schrieb über den Autoschlosser Horst Weinheimer: «Er war
20 Jahre alt, als er zum ersten Mal ein Theaterstück sah, Goethes
"Faust". Dieses große Erlebnis weckte sein Interesse für andere
Theaterstücke. Oft ertappte er sich beim Nachdenken, wie er diese oder jene
Rolle gestalten würde. Einmal fand er einen Zeitungsartikel über
Schauspielschulen... Kurz entschlossen nahm der junge Arbeiter Verbindung mit
der Schauspielschule in Berlin auf. Bis er eine Antwort erhielt, lernte er eine
Rolle auswendig — vor lauter Eifer gleich die ganze von Anfang bis Ende. Oft sprach
er dann am Arbeitsplatz in den Pausen das Erlernte vor
sich hin. Gutmütig sagten die Kollegen immer dazu: "Horst spinnt
wieder!"» (8.27)
Die Zeitung registrierte, daß an der Schauspielschule 50
Schüler studierten, wovon mehr als die Hälfte Arbeiter- und Bauernkinder waren.
(8.28) Ihre Erlebnisse bei Studienbeginn berichteten
Horst Weinheimer und Rolf Dietrich: «Immer haben wir geatmet, und plötzlich
sagte man uns, daß wir das nicht richtig können. Dann hieß es, daß wir auch
nicht richtig gehen können - ja, daß wir nicht einmal imstande sind, uns
richtig auf einen Stuhl zu setzen. Wenn man vor vielen kritischen Augen steht,
hat man plötzlich hundert Arme und Beine.» (8.29)
Alfred Müller mit Klaus Manchen
(r.) , Absolvent 1964,
im DEFA-Film „Netzwerk“
Das Erlebnis Schauspielschule weiß Alfred Müller noch heute
beeindruckend zu schildern, ein Schauspieler, der inzwischen vor allem durch
Fernsehen und Film einem Millionenpublikum bekannt ist. Der Sohn eines
Hilfsarbeiters und Taxifahrers hatte auf Geheiß der Eltern erst einmal «etwas
Ordentliches» lernen müssen. Doch den Mechaniker zog es zum Theater. Zunächst, nach Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft, im
Juli 1949, versuchte er es bei der DEFA, wo er mit dem Trost «... aber
Mechaniker ist doch auch ein schöner Beruf» (8.30) weggeschickt wurde. Dann, bereits 26 Jahre alt,
versuchte er es in Schöneweide. Und dort begannen mit dem Studium, wie er heute
sagt, seine wichtigsten Jahre: «Endlich lebte ich bewußt als Mensch. Es war,
als wäre ich neu geboren. Ich besuchte Theater, verschlang förmlich Bücher, und
langsam erschloß sich mir der große Wert guter, humanistischer Literatur. Wie
ein Schwamm war ich, der alles aufsaugte, was mir geboten wurde.» (8.31)
Zu den Studenten dieser Jahre gehörten Doris Abesser,
Klaus Bergatt, Christian Bleyhoeffer, Angela Brunner, Jens-Peter Dierichs,
Peter Dommisch, Peter Groeger, Uwe-Detlef Jessen, Heinz Klevenow, Otfried
Knorr, Renate Luderer, Maria Mägdefrau, Christa Pasemann, Kurt Radeke, Karla
Runkehl, Friedo Solter, Ursula Sukup, Lissy Tempelhof, Horst Ziethen und
Joachim Zschocke.
Anmerkungen:
8.17 Nachwuchs für Frau
Thalia, National-Zeitung am Mittag, Berlin 27.9.1953, Nr. 224
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8.18
Ebenda Zurück
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8.19 Vgl. M.f.K.,
HA Künstl. Lehranstalten: «Herr Otto Dierichs... war in der Zeit v. 1.9.1951 bis zum 15.5.1953
als Direktor d. Schauspielschule
Berlin tätig. Vom 15.5.1953 bis zum
31.12.1953 war Herr Dierichs zur Vorbereitung für eine neue künstlerische Tätigkeit beurlaubt...» HS-Archiv,
Xerokopie, Bl. D 6 Zurück zum Text
8.20
Christa Pasemann, Versuch einer Chronik der Schauspielschule Berlin 1951-1956, Diplom-Arbeit, S. 24, HS-Archiv Zurück zum
Text
8.21 Referat der Direktorenkonferenz am 15.9.1954, Referent Helmut Zocher, Archiv M.f.K., Sign. Nr. 966/1 Zurück zum Text
8.22
Das Deutsche Theater-Institut in Weimar war 1952 nach Leipzig verlegt, mit der Schauspielschule Leipzig vereinigt
und als Theaterhochschule Leipzig
weitergeführt worden. Zurück zum Text
8.23 Entwurf zur
Auswertung der Direktorenkonferenz in Dresden
am 14. u. 15.9.1954, Archiv M.f.K., Sign. Nr. 966/1 Zurück zum Text
8.25 Ebenda
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8.26 Ebenda
Zurück zum Text
8.27 Collo,
Plötzlich hat man hundert Arme, Tägl.
Rundschau, Berlin 21.3.1954 Zurück zum Text
8.28 «Insgesamt beträgt
die Zahl der Studenten an d. Schauspielschule 54,
Anteil d. Arbeiter- und ßauernkinder 21», in:
Protokoll d. Kollegiumssitzung v. 12.7.1954, Archiv M.f.K., Sign. Nr. 882/14 Zurück zum Text
8.29 Collo,
Plötzlich hat man..., a.a.O. Zurück zum Text
8.30 Zitiert in:
Helga Schwarz-Stötzer, Die besten Jahre, FF
Dabei, Berlin, Nr. 35/1985 Zurück zum Text
8.31 Zitiert in: H. Schwarz-Stötzer, a.a.O; Prof. Dr. Wilfried Markert: «Mit Alfred Müller in der Aufnahmeprüfung meldete sich
quasi eine neue Generation von Bewerbern, die sich darin von früher
unterschied, daß das Kollegium mit einer
neuen Art der Wahrheit oder Wahrhaftigkeit
konfrontiert wurde. Da Alfred Müller
ja ein Arbeiterkind war und relativ wenig oder gar keine Berührung vorher mit Kultur und Kunst oder
mit Theater speziell gehabt hatte, sondern
wirklich aus den eigenen Vorstellungen heraus
versuchte, sich künstlerisch zu äußern, wurde das im Hinblick auf vorherige andere Darbietungen als karg, verarmt empfunden. Im Grunde genommen war es aber eine neue Haltung zu der Realität des wirklichen Lebens, auch zur Realität in der Kunst.
Es erforderte ein Umdenken des Kollegiums.»
HS-Archiv, Tonb.-Aufz. v.
25.7.1985 Zurück
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