10. Organisieren von Bewährungen (1975-1981)

 

 

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Studioinszenierung „Iphigenie“

 

 

10.2   Neue Akzente

Schon 1976 wurden neue Akzente in der Ausbil­dung sichtbar. Der Direktor ging daran, Reste konventioneller Schauspielpädagogik auszuräu­men, „Überpsychologisierung“, „Übersensibilisierung“, „Samaritertum“, bis hin zu dem manchmal fast krankhaften Hang, in den Katego­rien «Liebe» und «Hass» zu erziehen. Aufkommen­de «Liebe» einer Pädagogin oder eines Pädago­gen zu einer Studentin oder zu einem Studenten konnte notwendige kritische Urteile modifizieren, gar abschwächen und gelegentlich in «Hass» um­schlagen, wenn das «Objekt», selbständig wer­dend, sich der besonderen Huld des Lehrers zu entziehen suchte.

Nun ist schauspielpädagogischer Unterricht ohne moralisch-ethische Kategorien nicht durchführbar. Spürbares Vertrauen und liebevolle Sympathie der Pädagogen gegenüber den Studenten einerseits, Verehrung und Achtung der Studenten gegenüber ihrem Lehrer andererseits sind sogar wertvolle Sti­muli. So wenig auf sie verzichtet werden kann, sie allein reichen nicht aus. Zumal Achtung und Ver­trauen nicht erschlichen werden können, sondern nur in harter, leistungsorientierter Arbeit wachsen. Geduldig und zielstrebig rückte daher der Direktor Forderungen ins Zentrum, die auf Leistung gerich­tet waren, auch auf Förderung von Leistung durch verstärkte Öffentlichkeitsarbeit.

Das außerschuli­sche Urteil — sowohl der Theaterleute wie der Zuschauer — bekam größeres Gewicht in der Bewer­tung erzielter Ergebnisse und bei der weiteren Pro­filierung von Ausbildung und Erziehung. Mit dieser erklärten Hinwendung zur Gesellschaft wirkte Hans-Peter Minetti sehr bewusst zugleich einer alarmierenden Erscheinung entgegen, nämlich dem damals deutlich nachlassenden, ja schwindenden Interesse junger Menschen am Schauspielerberuf. Im Zuge der wissenschaftlich-technischen Revolution, auch des landesweiten Auftriebs der Bauindustrie boten sich für junge Bürger viele anregende, oft neue und perspektivreiche Berufe. In den Orien­tierungen an den Oberschulen standen diese neu­en Berufe zwangsläufig und notwendigerweise im Mittelpunkt. Demgegenüber hatte die Theaterkunst in jenen Jahren an Attraktivität verloren. Es galt, durch unterschiedlichste Aktivitäten der Schule den Schauspieler-Beruf ins Gespräch zu bringen und zu versuchen, auch Presse und Fernsehen als Verbün­dete zu gewinnen. Nicht an lärmende Aktivitäten war gedacht, sondern an Überzeugung durch künstlerische Qualität.

 

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Gertrud-Elisabeth Zillmer

 

Schon 1975 hatte eine Inszenierung der Sternheimschen «Hose» von Thomas Langhoff im Thea­ter im 3. Stock der Volksbühne mit Studenten des 3. Studienjahres allgemein Beachtung gefunden, 1976 inszenierte Gertrud-Elisabeth Zillmer in einer Studio-Aufführung im Theater im Palast «Im Mor­gengrauen ist es noch still» von Boris Wassilijew. Im gleichen Jahr hatten Premiere: «Die Tage der Commune» von Brecht (Regie: J. Pörschmann/G. Schmidt) in der Probebühne des Berliner Ensem­bles, «Die Kleinbürgerhochzeit» von Brecht (Regie: Alexander Wikarski) in der Probebühne des Thea­ters der Freundschaft, «Bessie Bosch» von Wüsten (Regie: Heinz Hellmich) im Jugendtreff des Palastes der Republik. Schließlich inszenierte Thomas Lang­hoff 1976 im Sternfoyer der Volksbühne Goethes «Iphigenie auf Tauris».

 

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Thomas Langhoff

 

Mit diesen Unternehmungen waren die Möglich­keiten einer Fachschule ganz und gar ausgeschöpft. Die im Lehrkörper einsetzende Debatte zeigte, dass die Vorteile nicht sogleich erkannt und Nachteile oft übertrieben angemahnt wurden. Als Nachteil wurde empfunden, dass frühzeitige öffentliche Er­folge von Studenten deren Studienhaltung negativ beeinflussen können - was gelegentlich tatsächlich der Fall ist, denn nicht jedes junge Talent weiß Anerkennung, etwa in der Presse, produktiv zu ver­arbeiten. Aber was als noch nachteiliger festge­stellt wurde, waren die nicht zu verhindernden Ausfälle an Unterricht, meist in den theoretischen Disziplinen. Es konnte bei den Studenten der Eindruck entstehen, als sei Schauspiel das allein aner­kannte Ausbildungsfach.

Aber Vorteile überwo­gen. Die Zusammenarbeit zwischen Schauspiel, Sprecherziehung und Bewegung sowie bestimmte notwendige Zuarbeit von theoretischen Fächern führten zum Bemühen, Reserven zu erschließen und neu über die Ausbildung nachzudenken.

Des Direktors Faible für die Rezitation als ein künst­lerisches Feld des Schauspielers, wo er das Publi­kum unmittelbar und direkt zum Partner hat, öffne­te einen zusätzlichen Bewährungsraum für Studen­ten. Politisch-literarische Programme, auch litera­risch-musikalische Programme - in den jeweiligen Unterrichten, aber auch zusätzlich erarbeitet -wurden geradezu zu einem Markenzeichen der Schule. Hier hat sich besonders Wilfried Markert Verdienste erworben, in dessen «Literarischem Stu­dio» die einschlägigen Aktivitäten zusammenflos­sen und öffentlich gemacht wurden.

Nun galt es, erreichtes künstlerisches Niveau zu behaupten und sich nicht zu verzetteln. Die anhal­tende Auseinandersetzung im Lehrkörper über praxisorientierte Ausbildung führte zu einer neuen Qualität kollegialen Selbstverständnisses in Erzie­hung und Ausbildung. Offenkundige Erfolge waren da­bei dienlich, wie Langhoffs Inszenierung der «Iphigenie». Die Qualität dieser Studio-Aufführung war insofern kein Zufall, als Thomas Langhoff der Schule schon seit lan­gem eng verbunden war, auch von ihr profitiert hat, also künstlerische Anregungen erhal­ten, andererseits mit seiner prägenden Handschrift wesentlich auf das Profil der Schule zurückgewirkt hat.

Über die Aufführung schrieb Ernst Schumacher, nachdem er an das Akademisch-Klassische der Wolfgang-Langhoff-Inszenierung (1963) mit Inge Keller erinnert hatte: «Nun haben die Studenten des dritten Jahres der Schauspielschule Berlin den welken Lorbeer zum Grünen gebracht! Frei von Devotion gegenüber dem klassischen Werk, aber gleichzeitig das Wort stehen lassend, wie es ge­schrieben, haben diese jungen Schauspieler unter der Regie von Thomas Langhoff dem Stück eine Frische und Unmittelbarkeit gegeben, die es viel­leicht 1779 hatte, als es, noch in Prosa gehalten, von der herzoglichen Liebhabertruppe... aufgeführt wurde. Man fragt sich nach den Gründen. Zuerst einmal wurde das Stück dem Guckkasten entrissen und im Sternfoyer der Volksbühne in einer Arena dargeboten, die Spieler und Zuschauer einander ganz nahe brachte. Dann die Verfremdung, alles auf den Schauspieler zu stellen, als Ausstattung nur eine große graue Plane, über Spielgerüste gebreitet, zu benützen und Kostüme und Requisi­ten aus denkbar einfachsten Mitteln herzustellen, sie aber trotzdem, nein gerade deshalb zu thea­tralisch auffälligen Zeichen zu machen... Dazu grob, rauh benützte Schminke und schließlich die Art des Sprechens, den Text nicht nach dem deklamativen, sondern dem informativen Gehalt und bedeutenden Wert zu befragen, dabei seine tiefe Menschlichkeit gleichsam unter Schmuck und Zierrat hervorklaubend, freilegend. Und damit verbunden, die Rede ins körperlich Expressive zu überführen... Mit überwältigender Natürlichkeit gab Ruth Rei­necke die Iphigenie... womit gesagt sein soll, daß ihr alles Gekünstelte, Manirierte fern war. In die­se Iphigenie gingen gleichsam andere Mädchen­gestalten Goethes mit ein. In ihrer kräftigen Art, die Figur als Wesen von Fleisch und Blut, als Mensch zu zeigen, schimmerten das Klärchen, das Gretchen durch... Mit gezielter Unmittelbar­keit sprach sie das Publikum überall dort, wo es um die wahre Menschlichkeit, um das Anders­werden, auch sich selbst Verwandeln ging, an, und war bis zur Kreatürlichkeit Leidende, aber auch Reifende. Vor den Zuschauern fand die Verwandlung des klassischen in den realen Humanismus einer neu­en Generation, einer neuen Zeit statt, wurde sinnli­ches, gestaltetes Ereignis.“ (10.6)

Damit umriss die Kritik, was an der Schule profil­bestimmend geworden war: schauspielkünstleri­sche Gestaltung von der Position des realen Hu­manismus. Damals erschien in «Theater der Zeit» ein Artikel, in dem es hieß: «Die Ausbildung von Schauspielern ist nicht zu trennen von der Gesell­schaft, in der sie erfolgt, noch von dem Theater, für das sie bestimmt ist. Unser Theater versteht sich... immer deutlicher als Stätte eines Vergnügens, das in spe­zifischer Verschmolzenheit von Spiel als Nachah­mung menschlichen Handelns Erkenntnisse und Wertungen, Erlebnisse und Impulse über die progressive Veränderbarkeit menschlichen Zusam­menlebens vermittelt. Dieser gegenwartsorientierte Trend provoziert nicht nur die Entwicklung der Schauspielkunst als einzigartige ästhetische Mög­lichkeit, menschliches, also widersprüchliches Wir­ken in erregenden und bewegenden Begebenhei­ten auf der Bühne zu spiegeln, er macht auch einen disponiblen, vielseitigen Menschendarsteller zur Notwendigkeit. Dieser Darsteller muss seine Persönlichkeit schöpferisch in die Figuren einzubringen verstehen. Er nimmt die Figuren nicht zum Anlass, die Schauspielkunst zu verarmen, in­dem er sich selbst bespiegelt und egozentrisch die eigene Psyche aus sich herausstülpt. Er bemüht sich, den Reichtum zwischenmenschlichen Han­delns der Figuren nicht im leeren, sondern im sozia­len Raum zu entdecken, Triebe, Leidenschaften und Gefühle gestaltend, insbesondere aber Ge­danken und deren körperlich-materielle sinnlich­-praktische Äußerung.

Diese Auffassung von Schauspielkunst hat sich an der Staatlichen Schauspielschule Berlin in Ausein­andersetzung mit dem lebendigen Theater heraus­gebildet, sowohl in dem Bemühen, bei K.S. Stani­slawski und B. Brecht anzuknüpfen, als auch in der Polemik gegen Einflüsse des Modernismus auf dem Theater, im Kampf gegen die Preisgabe der menschlichen Substanz der Figuren und die De­nunziation überkommener humanistischer Positio­nen, auch in der Abkehr von dem Bestreben, unter Schauspielkunst das Zelebrieren von ästhetisch reizvollen Bildern zu verstehen. Damit sind neue Akzente gesetzt.

An der Schauspielschule Berlin wird nicht für ei­nen bestimmten Stil ausgebildet, etwa speziell für Stücke Brechts, noch wird eine enge Schaffensme­thode gelehrt, etwa reduziert auf ein Verabsolutie­ren der Hinweise Stanislawskis... Nicht gefühls­mäßiges Aufgehen in den Figuren oder deren ein­seitig kritisch-distanzierendes Verfremden wird we­sentlich für die zu vermittelnde schöpferische Ar­beitsmethode des Schauspielers, sondern die Fä­higkeit, im kreativen Schaffensprozess... die Figur verantwortlich wer­tend in ihrer reichen menschlich-sozialen Substanz zu erschließen.» (10.7)

 

 

 

Anmerkungen:

 

10.6       Ernst Schuhmacher, Mit gezielter Unmittelbarkeit, Berliner Zeitung, 8.7.1976   Zurück zum Text

10.7       Gerhard Ebert, Neue Akzente in der Ausbildung von Schauspielern, Theater der Zeit, Berlin, Heft 9/1976

 

 

 

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