10. Organisieren von Bewährungen (1975
– 1981)
Katrin Knappe und Frank Lienert
in „Urfaut“
10.3 Frank Lienert und der „Theaterwürfel“
Ein Beispiel für Nachwuchsgewinnung
aus dem Reservoir der Laienspielgruppen und
Arbeitertheater ist Frank Lienert. Er erinnert sich, dass solche Mitarbeit in einer Laienspielgruppe für den
Bewerber gar nicht so problemlos war. «Ich war "vorbelastet"!
Das ist wirklich ein schlimmer Punkt. Da
musste man erst einmal darüber hinwegkommen, wenn der Dozent in der
Eignungsprüfung erkennen ließ:
"Vorsicht! Da kommt einer mit handwerklich perfekten Dingen! Das müssen
wir ihm austreiben! Unbedingt! Bei
meinem Test — ich kam mit Edgar Wibeau,
der inzwischen schon berühmten Vorsprechrolle — haben die sehr schnell gesagt:
"Stop! Jetzt mal ganz anders! Versuchen Sie sich bitte in eine andere Situation zu versetzen!"“ (10.8)
In der Tat gab es Anfang der siebziger Jahre zuweilen
Bewerber aus Laiengruppen, die mit einem Repertoire von spielerischen
Fertigkeiten und damit gekoppelter großer Selbstbewusstheit die mögliche
Substanz ihres Talents ungewollt zudeckten. In solchen Fällen standen die
prüfenden Lehrkräfte vor einer schwierigen Aufgabe. Allerdings war keiner Seite
gedient, wenn dem Bewerber derlei Problematik vor der Prüfung kundgetan wurde,
anstatt grundsätzlich an dem offenkundigen, durch Praxis belegten Interesse für
den Schauspielberuf anzuknüpfen. Lienert hierzu: «Diese "vorbelasteten"
Bewerber haben ja doch irgendwie schon bewiesen, dass sie ein mögliches Talent
und eine "Phantasie-Strecke" für diesen Beruf haben.»
Die
Aufnahmeprüfung verlief günstiger. Frank Lienert erzählt: «Das Schöne war: Über
Spielsituationen in einer sehr familiären Runde passierte es, dass die Leute
Vertrauen kriegten und locker wurden, dass die Verkrampfung sich löste und die
Prüfungsangst sehr schnell weg war. Zwei Stunden lang hatten die Leute
wirklich Spaß, miteinander umzugehen, miteinander zu spielen, zu improvisieren.»
(10.9)
Frank Lienert studierte von 1976 bis 1979. Unter seinen
Kommilitonen waren Marina Krogull und Heidrun Perdelwitz (1977) sowie
Rolf-Jürgen Gebert, Manja Göring, Christoph Heckel, Michael Keller, Andreas
Knaup, Maximilian Löser, Bernd Lange, Dagmar Manzel, Gerald Schaale, Ralf-Peter
Schulze, Uwe Steinbruch und Jürgen-Michael Watzke (1978). Zu seinem Studienjahr
gehörten u.a. Peter-Mario Grau, Katrin Klein, Katrin Knappe, Herbert Sand,
Bernd Schramm, Peter Zimmermann und Gabriela Zion.
Frank Lienert
stellte sich zusätzlichen Anforderungen und vertrat die Interessen der
Studenten in der Schulleitung. Hier sammelte er Erfahrungen, die ihm später
halfen, das Projekt «Theaterwürfel» zu initiieren. Er ging von der
Studioinszenierung aus, die die Schauspielschule 1979 herausgebracht und in
der er die Titelrolle gespielt hatte: Goethes «Faust in ursprünglicher Gestalt»
(Regie: Thomas Langhoff).
Die Aufführung fand die einmütige Anerkennung der Kritik.
Dieter Kranz im Berliner Rundfunk: «Das Ergebnis... präsentiert... beachtlichen
Nachwuchs und stellt damit den Auswahlprinzipien und Ausbildungsmethoden der
Schöneweider Schule ein gutes Zeugnis aus... Das junge Ensemble nähert sich
dem Werk ganz locker und unbefangen mit einer Mischung aus Achtung und
Respektlosigkeit... Sie betonen die jugendliche Frische der Dichtung, das Fragmentarische
daran, kosten die kunstvolle Naivität der Knittelverse aus, setzen
gelegentlich ironische Akzente und brechen gar in den puren Jux aus, den sie
aber gleich wieder durch anrührenden Ernst kontern.» (10.10)
Ingeborg Pietzsch urteilte: «Da wird das Stück als das
genommen, was es ist: als ein Fragment, mit all seinen Brüchen, Unfertigkeiten
und Widersprüchen (und natürlich auch Schönheiten, seiner Poesie und seinem
Spaß). Da wird es... von jungen Leuten (auch noch mit einigen Unfertigkeiten)
vorgeführt: atemlos, wild, ganz und gar Sturm und Drang, heiter
enthusiastisch, mit schönem Engagement und herrlich jung.» (10.11)
Und Ernst Schumacher schrieb: Die Aufführung wurde «... zu einem echten theatralischen
Ereignis. Die drei Hauptdarsteller Frank Lienert (Faust), Herbert Sand
(Mephisto) und Katrin Knappe (Gretchen) trugen in das klassische Werk
Empfindungen einer heutigen jungen Generation hinein, die dem Werk Nötigung
antaten und es trotzdem mit neuen Aspekten versahen.» (10.12)
Die Aufführung erhielt den Kritikerpreis der «Berliner Zeitung» für jugendliche
Darsteller.
Drei Jahre später, im Vorfeld der Kulturkonferenz der
FDJ, ergriff Frank Lienert — mittlerweile am Deutschen Theater engagiert - die
Initiative und formierte aus den Darstellern der ehemaligen Studioinszenierung
die Spielgruppe «Theaterwürfel». «Geboren ist die Initiative aus Nöten», sagt
Lienert, «derer ja viele sind. Unterbeschäftigung. Überbeschäftigung in
falsche Richtungen, wo letztlich der Akteur gar nicht mehr weiß, was überhaupt
mit ihm passiert. Zum Beispiel, wenn Kollegen sagen: "Ich will nicht immer
die Maus vom Dienst spielen. Ich will auch Charaktere verkörpern." Es lag
uns daran, ein eigenes Labor zu kriegen. Das hat etwas mit
Selbstfindung zu tun.» (10.13)
Weil sie sich an ihren Theatern nicht recht ausgelastet
fühlten, vor allem aber, weil sie einen Beitrag zur Kulturkonferenz leisten
wollten, gewannen sie Thomas Langhoff für eine Wiederaufführung des
«Urfaust». Mit Unterstützung des Zentralrates der FDJ und der Volksbühne kam
es zu einem in der Theatergeschichte ungewöhnlichen Ereignis: Die Inszenierung
präsentierte sich in eben der Ursprünglichkeit und Frische wie schon 1979.
«Frank Lienert», so ein Presseurteil, «packt den Faust
bei dessen inbrünstigem Drang nach Erkenntnis und Verwirklichung, bei dessen
hartnäckiger Unerbittlichkeit gegenüber Mephistopheles, bei dessen
aufrichtiger, ja heiliger Liebe zu Margarete — und liefert immer auch eine
leise, spöttisch-heitere Ironie mit. So ist sein Faust ganz und gar der ernst
zu nehmende leidenschaftliche Stürmer und Dränger jener Zeit, und wird doch
ständig auch schaubar in der historischen Relativität, gar nicht aus
überheblicher Sicht, sondern freundlich, gewitzt, aufmunternd. Das ist Schauspielkunst,
sozial und historisch konkret und zugleich produktiv ins Gegenwärtige zielend,
wahrhaft ergötzend. Herbert Sand gibt den Mephistopheles als absoluten Schelm,
souveräner als seinerzeit... nicht minder clownesk und burlesk,
aber die Mittel genauer einsetzend, nicht so gewollt, sondern locker aus der
trockenen Lässigkeit des ewig manipulierenden, räsonierenden Teufels. Katrin
Knappe als Margarete ist zart und empfindungsvoll in ihrer Liebe, auch deftig
kann sie sein, ausgezeichnet ist sie wieder in der Kerkerszene.» (10.14)
Danach kam es noch zu einer zweiten Produktion der
Spielgruppe, der sich weitere Darsteller angeschlossen hatten. In der Regie
von Horst Hawemann erarbeiteten sie Shakespeares «Troilus und Cressida»,
wiederum an der Volksbühne. Die Aktivitäten des «Theaterwürfels» wurden 1985
auf dem V. Kongress des Verbandes der Theaterschaffenden der DDR ausdrücklich
als beispielhaft und nachahmenswert gewürdigt, fanden aber keine Fortsetzung.
„Troilus und Cressida“
von Shakespeare 1984 (Regie Horst Hawemann)
Programmzettel der Studioinszenierung „Urfaust“ - klick hier
Anmerkungen:
10.8 Gespräch m. Frank Lienert
v. 9.12.1985, Archiv G. Ebert, Tonb.-Aufz.
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10.9 Ebenda
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10.10
Dieter Kranz, Atelier und Bühne, Berliner Rundfunk, 17.6.1979 Zurück zum Text
10.11 Ingeborg
Pietzsch, Goethes Faust in ursprünglicher
Gestalt, Theater der Zeit, Berlin,
Heft 10/1979 Zurück
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10.12
Ernst Schumacher, «Urfaust» wurde zum Ereignis, Berliner Zeitung 14.8.1979 Zurück zum Text
10.13
Gespräch m. F. Lienert, a.a.O. Zurück zum Text
10.14
Gerhard Ebert, Forscher, akkurater und
vitaler Umgang mit Goethe, Junge Welt, Berlin 22.6.1982 Zurück zum Text
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