10. Organisieren von Bewährungen (1975 – 1981)

 

 

 

 

 

10.5  Nationale Schule machen

Im Verlaufe des Jahres 1978 provozierte Karl Schneider, der Generalintendant der Bühnen der Stadt Magdeburg, eine Diskussion über eine seines Erachtens neue Situation des Theaters der DDR und dabei entstandene Probleme der Nachwuchsausbildung. (10.16) Die von ihm aufgeworfene Problematik ist heute schwer nachvollziehbar. Daher hier zunächst einige Anmerkungen:

Wie auch immer man die sozialen Verhältnisse in der Deutschen Demokratischen Republik nennen mag, es waren keine kapitalistischen. Und eben diese historisch außergewöhnlichen gesellschaftlichen Umstände prägten die Ideen und Impulse im Lande  -  im Alltag wie in der Kunst. Wenn z.B. Bertolt Brecht mit dem Begriff „sozialistisch-realistisch“ operierte und mit ihm eine bestimmte ästhetische Gegebenheit zu kennzeichnen wusste, hatte der Dichter seine guten Gründe. Inzwischen ist der Begriff zwar nachhaltig diskreditiert worden, doch das damals mit ihm benannte Phänomen ist geblieben. In Bezug auf die Theaterkunst nämlich ein Schauspielen, das sich vom psychologischen Realismus sehr wohl unterscheiden lässt, ob das bürgerfleißige Feuilletonisten nun wahrhaben wollen oder nicht. Kreiert am Berliner Ensemble und praktiziert dann auch an anderen Bühnen wurde ein Schauspielen, das nicht primär auf forciertes Ausstellen seelischer Befindlichkeiten der Figuren orientiert war, sondern das primär deren soziales Verhalten zu entdecken und konkret zu zeigen versuchte. Wofür der Begriff „sozial-realistisch“ zweifellos besser geeignet ist als die Erfindung „sozialistisch-realistisch“.

Was die „nationale Schule“ betrifft, von der hier die Rede sein wird, kann im nachhinein nur gesagt werden, dass in der DDR immerhin danach gefragt wurde, nach einem die Theaterleute wie ihre Zuschauer verbindendem Ideengut  – ein Bemühen, wofür sich in heutiger deutscher Bundesrepublik kein Schwein interessiert. Verbindende, gar gemeinsame Ideale der Theaterkünstler gibt es nicht. Jeder jagt wacker und vom Feuilleton immer wieder angestachelt der neuesten subjektiven Exaltiertheit nach, um irgendwie ins Gespräch zu kommen, wobei oft auf jede nationale wie humanistische Tradition gepfiffen wird.

Insofern mutet heutzutage einigermaßen seltsam an, was Karl Schneider 1978 diskutiert wünschte, zumal es sich nur auf die DDR bezog. Möglicherweise steckte „tiefenpsychologisch“ sogar echte nationale Sehnsucht zwischen den Zeilen, und zwar die Hoffnung, wenigstens im geistigen Raum zu etablieren, was im materiellen unerreichbar schien.

Der Magdeburger Generalintendant beschwor einen «Teufelskreis»: «Unzufriedenheit der Theater mit den an den Schulen ausgebildeten jungen Künstlern hinsichtlich Inhalt und erreichtem Grad der Ausbildung (bei manchen Theaterleuten auch Einschränkungen hinsichtlich der ethisch-moralischen Qualitäten der Ausgebildeten) — andererseits Unzufriedenheit der Schulen und Absolventen mit dem künstlerischen, ideologischen, ethischen Zustand mancher Theater (oft verallgemeinert auf "das Theater" schlechthin), mit der Aufgabenstellung für den Nachwuchs und dessen Weiterentwicklung.» (10.17)

Karl Schneider sah Ursachen für Spannungen in diesem «Teufelskreis» weniger in den Ausbildungsstätten, als vielmehr im Theater der DDR: «Die Theater stellen an die Ausbildungsstätten die Forderung nach stärkerer Praxisorientierung der Ausbildung - eine auf Anhieb zu Recht bestehende und einleuchtende Forderung. Jedoch: Jedermann weiß, daß z.Z. (und schon bedenklich lange) die Praxis des Theaters der DDR bestenfalls inhaltlich, keineswegs jedoch in der Form und in der Methode vorhanden ist. Man darf doch sicher zu Recht behaupten, daß es gegenwärtig so viele Meinungen zum Theaterspielen hinsichtlich Form und Methode (manchmal sogar hinsichtlich des Inhalts) gibt, wie es profilierte Regisseure und Schauspieler gibt.» (10.18)

Welch groteske Position! Schneider empfand die durch schöpferische Gegensätzlichkeit erreichte Vielfalt des DDR-Theaters als Mangel! Und er setzte einen Ruf nach «nationaler Schule» dagegen, sich dabei auf einstige Impulse von Weimar-Belvedere (Deutsches Theaterinstitut) berufend.

Er übersah - gewollt oder ungewollt — die ab Mitte der sechziger Jahre nationale Schule machende Ausbildungspraxis der Berliner Schauspielschule. Da er die historisch neue Qualität dieser Ausbildung nicht erkannte, bezweifelte er auch die Möglichkeit, einen flexiblen, disponiblen Darsteller auszubilden, der offen ist für unterschiedliche Regiehandschriften.

«Man kann nicht», schrieb er, «Studenten (selbst wenn es theoretisch und praktisch möglich wäre) für jede Methode, für jede Auffassung von Theater ausbilden, ohne seine Persönlichkeit von vornherein zu zerstören. Es gibt keinen "disponiblen" Absolventen für jede beliebige Anforderung (wobei von mir nichts über Richtigkeit oder Unrichtigkeit von Anforderungsbildern gesagt wird), der zugleich eine ausgeprägte junge sozialistische Künstlerpersönlichkeit ist, was nun wiederum von allen verbal gefordert wird.» (10.19)

Wenn über „nationale Schule“ nachgedacht wird, war schon 1978/79 abzusehen, dass sie nicht einmal darin bestehen kann, etwa lediglich eine Brecht-Tradition fortzuschreiben. Selbst Brechts Verfremdungstechnik, so tief sie in die nationale Tradition eingegangen ist, unterliegt zeitbedingten Abwandlungen. (10.20)

Das in aller Stille «Schule machende» der Berliner Schauspielschule hatte gerade darin bestanden, nicht dogmatisch einseitig zu sein, sondern die Studenten zunehmend stabil mit einem Rüstzeug auszustatten, das unabhängig von subjektiven Methoden dieses oder jenes Künstlers in Kenntnis der objektiven Gesetzmäßigkeiten der Arbeitstätigkeit «Schauspielen» entwickelt und vermittelt wurde, dabei allerdings sehr wohl Ideengut von Reinhardt bis Brecht und auch Stanislawski aufgreifend und verarbeitend. (10.21)

In diese Zeit fällt die Anregung des Direktors der Schule an die Pädagogen, ein Handbuch über die Schauspieler-Ausbildung zu schreiben. In diese Zeit fallen zugleich die verstärkten Bemühungen Hans-Peter Minettis, die Ausbildung noch nachhaltiger auf die Theaterpraxis zu orientieren.

Zu «nationaler Schule» gehörte konstitutiv eine dialektische und materialistische Weltanschauung als Grundlage für die Fähigkeit, im Dasein des Menschen soziale Widersprüche und Zusammenhänge zu erkennen und auf der Bühne schaubar zu machen. Dies nicht etwa sklavisch und eng naturalistisch, sondern variabel dem Kunstwerk gemäß, also durchaus auch im Symbol und in mannigfacher, auch ironischer Verfremdung. Aus solch produktiver Haltung erwuchsen immer wieder neue Ansprüche im humanistischen Umgang mit dem Menschen und damit unterschiedlich auffällige, gelegentlich auch umstrittene künstlerische Handschriften und Spielauffassungen. Das belegten hinlänglich Regisseure — ehemalige Absolventen — wie Hannes Fischer, Horst Schönemann und Wolf-Dieter Panse, wie Friedo Solter, Alexander Lang, Jürgen Gosch und Manfred Karge, wie Siegfried Höchst, Alexander Stillmark, Wolfram Krempel, Hans-Georg Simmgen, Horst Ruprecht, Hans-Joachim Frank, Klaus Erforth, Werner Tietze und Uwe-Detlev Jessen.

Insofern ist heutiges Bekenntnis zu Brecht und dessen Theater fragwürdig, wenn es nicht auf einer materialistischen und zugleich dialektischen Betrachtungsweise der Wirklichkeit fußt. Aus gutem Grunde hatte Brecht in seinem „Kleinen Organon für das Theater“ formuliert: «Will der Schauspieler nicht Papagei oder Affe sein, muß er sich das Wissen der Zeit über das menschliche Zusammenleben aneignen, indem er die Kämpfe der Klassen mitkämpft. Dies mag manchem wie eine Erniedrigung vorkommen, da er die Kunst, ist die Bezahlung geregelt, in die höchsten Sphären versetzt; aber die höchsten Entscheidungen für das Menschengeschlecht werden auf der Erde ausgekämpft, nicht in den Lüften; im "Äußern", nicht in den Köpfen.“

Die schöpferische Differenzierung auf der Basis dialektischer Weltanschauung begann schon während des Studiums. Dazu Hans-Peter Minetti: «Es wäre schrecklich, Schauspielstudenten zu haben, die der Meinung wären: das Theater, das Fernsehen oder die Filme, die wir gegenwärtig machen, sind gut und Punkt. Was könnten sie außer bloßer Fortsetzung noch leisten? Sie müssen unzufrieden sein mit uns, andere Auffassungen haben und es anders machen wollen. Und dafür ist Raum da. Aber wir müssen auch begreiflich machen, daß man etwas nur anders machen kann, wenn man sich zuvor den gegenwärtigen Standard angeeignet hat. Ich kann nicht negieren ohne Wissen. Wenn negieren schöpferisch bleiben soll, muß ich das zu Negierende beherrschen... Wir dürfen nicht so tun, als sei etwas der Weisheit letzter Schluß; aber sagen müssen wir: das ist das künstlerische Niveau, das wir zu bieten haben - wir müssen darauf bestehen, daß ihr es euch zu eigen macht. Was ihr später damit tut, ob ihr es bestätigt, erweitert oder gar verwerft und etwas anderes dagegen setzt, ist eure Sache.» (10.22)

 

 

 

Anmerkungen:

 

10.16  Karl Schnei­der, Nationale Schule machen, Theater der Zeit, Berlin Heft, 11/1978   Zurück zum Text

10.17  Ebenda   Zurück zum Text

10.18  Ebenda    Zurück zum Text

10.19 Ebenda    Zurück zum Text

10.20  Das von Brecht geforderte di­stanzierende Zeigen der Figur durch den Schauspieler, womit Identifikation des Zuschauers mit der Figur vermieden werden soll, funktioniert nicht bei Helden, mit de­nen sich der Zuschauer identifizieren sollte und auch will.   Zurück zum Text

10.21   Vgl. Gerhard Ebert, Improvisa­tion und Schauspielkunst/Über die Kreativität des Schauspielers, Berlin 1979   Zurück zum Text

10.22  Hans-Peter Minetti, Erkenntnis und Bekenntnis brauchen einan­der, Gespräch m. P. Schendel in: Forum, Berlin 2. September-Heft 1979  

 

 

 

 

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