10. Organisieren von Bewährungen (1975-1981)
10.1 Hans-Peter Minetti – Leiter von beständiger
Dynamik
Am 9. April 1975 wurde der Schauspieler Hans-Peter
Minetti vom stellvertretenden Kulturminister Dr. Wilfried Maaß in sein Amt als
Direktor eingeführt. Prof. Rudolf Penka hatte wegen seiner angegriffenen
Gesundheit - eine aus der Nazihaft herrührende Erkrankung machte ihm zunehmend
zu schaffen — seit längerer Zeit um Abberufung gebeten. Schon mit seiner
Antrittsrede ließ Minetti erkennen, wie sehr er einerseits auf den Ergebnissen
bisheriger schauspielpädagogischer Arbeit aufzubauen gedachte und wie
konsequent er andererseits neue Akzente zu setzen gewillt war.
Zum Auftakt bedankte er sich für die
anerkennenden Worte des Ministers: „Wir Schauspieler (und das schließt gerade
auch die werdenden Schauspieler mit ein) haben solche Worte nötig — weniger
als Attest, als ein Alibi, weniger als Rechtfertigung oder Rückendeckung,
vielmehr auch als ein Mittel der Ortung, der Navigation...“ (10.1)
Minetti hielt ein leidenschaftliches Plädoyer für das Gebrauchtwerden des
Schauspielers in der Gesellschaft. (10.2)
Zum Abschluss brachte er seine Freude zum Ausdruck,
«einen ganzen Stab so qualifizierter, ja hochqualifizierter Mitarbeiter
vorzufinden» und würdigte insbesondere die Verdienste von Rudolf Penka. Er schloß mit den Worten: «Jede neue Rolle bringt Neues:
neue Entdeckungen und Erkenntnisse, neue Begegnungen. Mit jeder Rolle lernen
wir. Vor jeder neuen Rolle freut man sich auf etwas Bestimmtes an ihr. Worauf
ich mich bei dieser neuen "Rolle" freue, ist: mit Euch, mit den
Mitarbeitern, mit den Dozenten und Studenten der Schauspielschule Berlin gemeinsam
viel Neues lernen zu können.» (10.3)
Der am 21. April 1926 als Sohn des Schauspielers Bernhard
Minetti in Berlin geborene Hans-Peter Minetti studierte Geschichte und
Philosophie an den Universitäten Kiel, Hamburg und Berlin. Im Wintersemester 1945/46
wurde er in Kiel Mitglied der KPD. In Hamburg, an der Studentenbühne, entdeckte
er seine Liebe zur Theaterkunst. Das Schauspielen studierte er dann bei Maxim
Vallentin und Ottofritz Gaillard am Deutschen Theaterinstitut in Weimar, von wo
er 1950 mit dem Jungen Ensemble auf Tournee ging. Er gab den Perdican in Mussets
«Man spielt nicht mit der Liebe». Über Engagements am Mecklenburgischen
Staatstheater Schwerin (1952/53) und am Maxim Gorki Theater Berlin (1953/56)
kam er 1956 ans Deutsche Theater. Dort spielte er 1958 in der Regie von Heinz
Hilpert den Baron Tusenbach in Tschechows «Drei Schwestern», 1959 in der Regie
von Wolfgang Heinz den Pawel Rjumin in Gorkis «Sommergäste» und 1960 in der
Regie von Wolfgang Langhoff den Major von Tellheim in Lessings «Minna von
Barnhelm».
Hans-Peter Minetti in „1913“ von
Sternheim mit Wolfgang Langhoff am Deutschen Theater Berlin
Schon 1954/55 hatte Minetti als Fiete Jansen im
zweiteiligen DEFA-Film «Ernst Thälmann» einen großen Filmerfolg. Seither
spielte er zahlreiche Rollen in Film — u.a. in «Tinko», «Lissy», «Reserviert
für den Tod», «Im Sonderauftrag» — und Fernsehen - u.a. in «Dr. Schlüter», «Das
verlorene Gesicht», «Der Stern wird rot», «Arzt am Scheideweg», «Michael
Kramer».
Am Theater stellte er sich den unterschiedlichsten
Aufgaben. Ein schöner Erfolg wurde «Salut an alle. Marx», eine szenische
Montage von Texten von Marx und Engels, zusammengestellt von Kaltofen/Pfeifer,
1976 im theater im palast, mit Oelschlegel (Jenny), Schall (Marx) und Minetti
(Engels). In Rostock am Volkstheater spielte er den Einstein in Ernst
Schumachers «Die Versuchung des Forschers» in der Regie von Hanns-Anselm
Perten, am Berliner Ensemble den Wenzeslaus in Brechts «Hofmeister», den Kaiser
von China in Brechts «Turandot», den Feldprediger in Brechts «Mutter Courage
und ihre Kinder» sowie den Papst in Brechts «Galileo Galilei». An der
Volksbühne war er als König in Shakespeares «Ende gut — alles gut» zu sehen.
Damit ist die Liste seiner Rollen am Theater, bei Film und Fernsehen sowie beim
Hörspiel keineswegs erschöpft.
Minetti als Einstein in
„Versuchung des Forschers“ von Ernst Schumacher
Hans-Peter Minetti ist ein vielseitiger Schauspieler im
besten Sinne. Immer ist er wesentlich, spielt aus einem Zentrum geradezu
besessenen Komödiantentums. Töne ergreifender, nachdenklicher Verhaltenheit -
wie in seinem Rilke-Abend (gemeinsam mit Vera Oelschlegel) — stehen ihm ebenso
zur Verfügung wie die bebende Gewalt des großen Ausbruchs. Stechend hart können
seine Augen sein, aber auch strahlend, gewinnend, gleichsam umarmend,
liebkosend. Unübertrefflich ist das gestisch differenzierte Spiel seiner
Hände, schauspielerisch geführt bis in die Fingerspitzen. Minetti verfremdet
seine Figuren kaum, vordergründig schon gar nicht. Der tätige, leidenschaftliche
Humanist sucht stets den Menschen, dessen Herz, dessen Seele, dessen Gefühle,
und den gemäßen, darstellerisch klaren Ausdruck. Immer ist die engagierte
Persönlichkeit anwesend in seinen Gestalten und gibt ihnen unverwechselbar das
Fluidum, die faszinierende Ausstrahlung dieses Künstlers. Es mag übertrieben
klingen, zumal er in diese Schule nicht gegangen ist: In ihm ist — selten
mittlerweile an unseren Theatern - noch eine Ahnung der Reinhardt-Tradition
lebendig, das «heilige Pathos» mimischer Verwandlung. Zugleich aber und
insbesondere lebt in ihm die Tradition Langhoff, Brecht, Heinz, das «sachliche
Pathos» der Wirklichkeit - jene größere seelische Tiefe und gestische Kraft,
welche diejenigen einbringen, die «mehr als Talent» von sich abfordern.
...als
Feldprediger in Brechts „Mutter Courage und ihre Kinder“ mit Gisela May
Bertolt
Brecht hatte von Hans Otto (10.4) gesagt: «Er gehört zu
jenen, die überlegt haben, was zur Ausübung wirklicher Schauspielkunst nötig
ist. Es waren bei ihm keine allgemeinen Überlegungen, sondern solche, die sein
Beruf... ihn anzustellen zwang und die auf Erkenntnis herausliefen, dass nicht
weniger als Umänderung aller gesellschaftlichen Verhältnisse von Grund auf nötig
ist, damit große Schauspielkunst entstehen kann... Unserm Freund Otto schien
darum mehr als Talent nötig dazu, um zu einer wirklichen Schauspielkunst zu
gelangen.» Der Dichter nannte Hans Otto «einen Mann seltener Art, unkäuflich.»
(10.5) Unkäufliche Künstler, die dies «mehr als Talent» für
sich in Anspruch nehmen können, sind so selten nicht. Hans-Peter Minetti zählt
zu ihnen.
Sein künstlerisches Kredo lässt sich mit Max Reinhardts
Ruf «Seid wahr, seid wirklichkeitsnah» nur ungenügend erfassen. Minetti
fordert nicht nur Wahrheit, sondern auch ein Wissen um das «Warum?» Das heißt,
er orientierte die Studenten auf ein weltanschauliches Fundament, von dem aus
überhaupt erst einmal nach Wahrheit gefragt und realistische Antworten gefunden
werden können. Er plädierte auch nicht einfach für Wirklichkeitsnähe, sondern
geradezu für ein Verstricktsein in die Wirklichkeit, und zwar nicht im Sinne
neugierigen oder passiven Ausgeliefertseins, sondern im Sinne bewussten,
tätigen Veränderns, stimuliert durch Kenntnisse.
Minetti im Gespräch mit Wolfgang
Heinz
Anmerkungen:
10.1
Hans-Peter Minetti, Antrittsrede 1975, Archiv Minetti
10.2 Ebenda
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10.3 Ebenda
10.4
Hans Otto (1900-1933), Schauspieler, stud. 1918-1920 in Dresden, 1924 Beitritt zur KPD, 1924-1926 Engagement in Gera, 1926-1929
am Schauspielhaus Hamburg, 1930-1933 am Preußischen
Staatstheater in Berlin, im April 1932 mit
Heinz und Langhoff Eintreten für
Programm der Einheitsfront gegen Faschismus, 1933 Verhaftung und Ermordung
durch die Faschisten. Zurück zum Text
10.5
Bertolt Brecht, Schriften zum Theater, Bd. III,
Berlin 1964, S. 8f Zurück
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