9. Die Herausforderung Brecht (1962 – 1975)

 

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9.6  Dieter Mann wird Intendant

1964 holten Friedo Solter und Hans-Diether Meves den Studenten des 3. Studienjahres Dieter Mann für ihre Inszenierung des Schauspiels «Unterwergs» von Rosow ans Deutsche Theater. Er spielte den Wolodja, seine Kommilitonin Christine Schorn die Sima. Die Aufführung fand einhellige Zustimmung.

 

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Dieter Mann als Wolodja in „Unterwegs“ mit Christine Schorn

 

 

Herbert Jhering schrieb: «Der junge Dieter Mann spielte den Wolodja zögernd, denkend, witzig, jungenhaft, protestierend, begeistert. Auch die Sima der Christine Schorn soll man sich merken.» (9.29) Rolf-Dieter Eichler urteilte: «Die beiden Hauptdarsteller, Absolventen der Schauspielschule Berlin, sind eine Entdeckung. Mit größter Leichtigkeit werden sie der anspruchsvollen Spielweise gerecht. Unerschöpflich scheint ihr Reichtum an Ausdrucksmitteln, junge Menschen heute zu kennzeichnen.» (9.30) Elvira Mollenschott prophezeite: «Für zwei junge Schauspieler, Absolventen der Staatlichen Schauspielschule Berlin, ist dieser Abend sicher der Start für eine verheißungsvolle Laufbahn.» (9.31)

Unmittelbar nach dem Studium an das Deutsche Theater in Berlin zu gehen, war für beide Absolventen eine Entscheidung, die viel Selbstvertrauen und auch Risikobereitschaft erforderte. Sie wagten den Schritt. «Unterwegs», ihr Debüt-Erfolg, ist seither gleichsam zum unausgesprochenen Motto ihres Wirkens an dieser führenden Bühne des Landes geworden. Stets waren sie «unterwegs» zu neuen, ihr Talent fordernden und prägenden Aufgaben.

Dieter Mann, geboren 1941, Student der Schule von 1961 bis 1964, ist der Prototyp eines disponiblen und flexiblen realistischen Schauspielers. «Ein ausgeprägtes natürliches Talent, körperliche und geistige Agilität, das ist die eine Quelle seiner Erfolge, die andere Lebenskenntnis und ein kritisch parteilicher Standpunkt. Dieter Mann ist ein Berliner Arbeiterjunge, lernte Dreher, bevor er zur Schauspielschule kam; intime Kenntnis der Probleme des rebellischen jungen "Helden" und eine kritische Haltung zu dessen naivem Rebellentum prägten etwa die Darstellung des Wowa.» (9.32)

 

 

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Dieter Mann als Clavigo (l.) mit Christian Grashof

 

 

In der Regie von Friedo Solter spielte er 1966 den Tempelherrn (Lessing, «Nathan der Weise») und 1972 in der Regie von Horst Schönemann den Edgar Wibeau (Plenzdorf, «Die neuen Leiden des jungen W.»). Weitere wesentliche Rollen waren der Jakob Filter in Kants «Aula», Goethes «Clavigo», der Ariel in Shakespeares «Sturm» und der Jean in Kaisers «Zwei Krawatten».

 

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...als Edgar Wibeau in „Die neuen Leiden des jungen W.“

 

Der Schauspieler Dieter Mann münzt die charmante, helle Schnoddrigkeit des Berliners, den vitalen, gesunden Ehrgeiz und Elan des Arbeiters und die leidenschaftliche Vernünftigkeit des Intellektuellen um in darstellerische Impulse, die seinen Bühnenfiguren unverwechselbare Lebensnähe und Überzeugungskraft geben. Stets ist die starke, kluge Persönlichkeit dieses Darstellers in seinen Gestalten lebendig - ob für die ehrliche Liebenswürdigkeit und robuste Arroganz des Tempelherrn, für die körperliche Agilität und tänzerische Eleganz des Luftgeistes Ariel, für die listige, witzige Leichtigkeit des Kellners Jean oder für die gelegentlich saloppe Unbeherrschtheit und ansonsten beflissene, aalglatte Distinktion des Illo. Ob als Demetrius in Shakespeares «Sommernachtstraum», als Staatssekretär in Goethes «Torquato Tasso», als Lopachin in Tschechows «Kirschgarten» oder als Johannes Hörder in Bechers «Winterschlacht» - Dieter Mann überzeugt als ein Schauspieler äußerster Konzentration, aus der heraus er mit Lockerheit und Bestimmtheit gewinnende Menschlichkeit produziert. Ein Darsteller von hohen Graden, der feine Verfremdungen seiner Figuren allenfalls als spöttisch-freundliche Ironisierungen liefert, der deren menschliches Zentrum aber nie verletzt.

1982 bekannte er: «Wenn ich so etwas wie eine Grundauffassung meines Berufes formulieren sollte: Ich möchte, daß die Leute das Leben bejahen, mit all seinen Schönheiten und Schwierigkeiten, mit allem, was dazu gehört. Da ist kein Schmerz ausgespart und keine Freude, keine Trauer und keine Heiterkeit, kein Gedanke und kein Gefühl...» (9.33)

Als ihm 1984 die Intendanz des Deutschen Theaters angetragen wurde, fiel ihm die Entscheidung nicht leicht. Zu sehr, zu elementar war er und empfand er sich als Schauspieler. Das „Leiten“ hatte er nicht gelernt. Er ließ sich überzeugen. Seit dem 1. August 1984 arbeitete wieder ein Schauspieler als Intendant des traditionsreichen Hauses in der Schumannstraße. Einen Monat nach seiner Berufung sagte er unumwunden: «Ich bin erst mal Schauspieler, und Intendant lerne ich jetzt gerade... Das heißt, ich werde als Schauspieler weiterarbeiten, aber eben, weil ich Intendant erst lerne, muß ich sehr ökonomisch mit mir umgehen...» (9.34)

Ebenso offen sprach der neue Hausherr über den Spielplan: «Man muß eine schöne Relation finden zwischen Klassik, sozialistischer Dramatik, aber auch Weltdramatik. Ich glaube, die Wechselwirkung der verschiedenen Spielplanbereiche muß bewahrt werden, um das Theater lebendig zu erhalten, sonst werden wir ein Museum. Da sind wir so wunderschön rekonstruiert und haben die Denkmalspflege im Hause, und am Schluß sehen die Stücke aus wie Denkmalspflege. Das darf uns nicht passieren.» (9.35)

Dieter Mann steht ganz und gar in der progressiven humanistischen Tradition seines Hauses, wenn er vom Schauspieler fordert: «Wer mit diesem Beruf mehr will, als nur sich selbst verwirklichen, wer mehr Motivationen hat, als nur den eigenen Ehrgeiz... wer in diesem Beruf wirkliche Qualität hat in einem umfassenden Sinne, also politisches und künstlerisches Ethos, wer als Künstler eine Moral hat, der engagiert sich nicht in Abhängigkeit von der Gage. Der arbeitet... auf der Bühne als Ausdruck eines künstlerischen und politischen Bedürfnisses. Ich denke, ohne diese Haltung gibt es keine wirkliche Qualität. Wenn Schauspieler nicht auf die Bühne gehen, um etwas sie und das Publikum Betreffendes zu verhandeln, um einen Zeitnerv der Gesellschaft zu treffen, dann verkommt der Beruf, dann wird das Theater so ein kulinarischer Tempel. (9.36)

Befragt nach Schauspielkunst heute, 1985, antwortet Dieter Mann: «Das ist für mich ein inhaltlicher Punkt, nämlich: Immer wurden auf dem Theater Dinge verhandelt, die die Leute von der Existenz her, von der Substanz her betroffen haben. Das ist für mich ein Punkt, wo ich gar nicht über Stile rede, sondern erst mal über Inhalte.» (9.37) Und als Schauspieler fügt er hinzu: «Ich bemerke sehr wohl, wie im Menschen nach wie vor eine große Sehnsucht ist. Thomas Mann nennt es irgendwo: "Dem Menschen ist an Wiedererkennen gelegen." Er möchte sich mit dem einzelnen Individuum auf der Bühne identifizieren oder auch deutlich distanzieren.» (9.38)

 

 

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...im Gespräch mit Gerhard Bienert

 

 

Dann spricht Dieter Mann über künstlerische Mittel des Theaters, darüber, wie es Wirkungen erzielen kann. Er orientiert dabei nicht auf überkommene Stile, sondern auf die Realität. «Mich interessieren zwei Möglichkeiten», sagt er. «Bei der einen wird gefragt: Welche Art ist eigentlich im Moment dran? Womit werden die Leute im Moment gefangen? Also - natürlich stark vereinfacht: Wenn zum Beispiel das Fernsehen auf starke Reizeffekte geht, die Jugend beim Tanz auf Lautstärke, dann gehe ich auf dieser Strecke mit und sogar noch einen Schritt weiter! Ich gehe dann eben mit Laser rein und mit überlauter Musik. Ich verwende dann im Grunde den Zeitgeschmack und versuche, über ihn hinausgehend, mit ihm zu vermitteln, was ich vermitteln will. Oder ich gehe den anderen, den zweiten Weg. Auch der wird gegangen. Ich registriere: Alle Lebensbereiche der Menschen werden abgedeckt durch die Massenreize, die täglich auf sie einströmen. Und ich frage: Was fehlt ihnen eigentlich? Da stelle ich fest: Es fehlt ihnen Stille, Nachdenklichkeit, Identifikation. Ein Beispiel: Alle Frauen tragen Hosen! Und plötzlich sagt jemand: Schau mal, wie schön, daß da eine Frau einen langen Rock trägt! Also: Diese zwei Möglichkeiten sehe ich: Sich in der "normalen" Reizüberflutung mitzubewegen und die Menschen eigentlich darauf hinzuweisen: Das kann es nicht sein. Und der andere Weg, zu fragen: Was fehlt den Leuten eigentlich?» (9.39)

Dem neuen Regime war Dieter Mann nicht mehr genehm. 1991 endete seine Intendanz. Als Schauspieler hat er sich am Deutschen Theater behauptet. Und er ist sich treu geblieben. Er braucht keine theatrale Effekthascherei, er brilliert nach wie vor mit äußerst differenzierter, markant charakterisierender sozial konkreter Schauspielkunst.

 

 

40jähriges Bühnenjubiläum

Interview in „Berliner Zeitung“ - online

Interview in „Neues Deutschland“

 

 

 

 

 

Anmerkungen:

 

9.29    Herbert Jhering, Theater unterwegs oder unbelehrbar?, Die andere Zeitung, Hamburg 15.10.1964    Zurück zum Text

9.30    Rolf-Dieter Eichler, Einer lehrt, was leben heißt, National-Zeitung, Berlin 29.9.1964    Zurück zum Text

9.31      Elvira Mollenschott, Odyssee eines Widerspenstigen, Neues Deutschland, 29.9.1964    Zurück zum Text

9.32     Martin Linzer, Dieter Mann, in: Schauspieler, Berlin 1980 S. 205    Zurück zum Text

9.33     Gespräch m. D. Mann, Neues Deutschland, Berlin 10.4.1982    Zurück zum Text

9.34     Neue Berliner Intendanten, Sonntag, Berlin 23.9.1984    Zurück zum Text

9.35       Ebenda    Zurück zum Text

9.36     Dieter Mann, Aufregung von sehr erwünschter Art, Junge Welt, Berlin 8.11.1985    Zurück zum Text

9.37     Gespräch m. D. Mann v. 21.11.1985, Archiv G. Ebert, Tonb.-Aufz.    Zurück zum Text

9.38        Ebenda    Zurück zum Text

9.39        Ebenda    Zurück zum Text

 

 

 

 

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