40jähriges Bühnenjubiläum
von Dieter Mann
Interview für „Neues Deutschland“ vom 4. September 2004
Dieter Mann, mit welcher
Gemütsverfassung üben Sie Ihren Beruf gegenwärtig aus?
Mit ruhigem Warten. Ich bin nicht nervös. Ich weiß, wie meine
Spielzeit hier am Hause aussieht. Mit der Schaubühne gibt es Gespräche über
eine Gastarbeit. Im Übrigen habe ich Bücher zu Hause, auch ganz schöne CD's, und ich gucke auch gerne in den Himmel. Aber ich weiß
ja, dass Ihre Frage mehr meint.
So wie
Ihre Antwort Beschaulichkeit nur vortäuscht.
Ich täusche nichts vor, ich will nur nicht mehr ständig mit überhitztem
Motor fahren, sondern meine Arbeit mit Ruhe und in Freude machen. Manchmal
denke ich da an meinen Freund Klaus Piontek, der sagte: Lieber Erster in
Verona, als Zweiter in Rom.
Wer mit
der Welt spielen kann, ist ein Privilegierter.
Ich bin - im Gegensatz zu vielen Menschen im Ostteil des Landes -
in der glücklichen Lage, Arbeit zu haben, Arbeit zudem, die Spaß macht und die
ich mir inzwischen größtenteils aussuchen kann. Es reicht der Blick in eine
einzige Zeitung, und ich muss mir sagen, obwohl ich kein unbedingt positiv
denkender Mensch bin: Eigentlich geht es dir unverschämt gut.
Man ist
stets »nur« das, was einem gegeben ist - nicht das, was man sich wünscht, zu
sein. Das haben Sie, so ähnlich, vor etwa zwanzig Jahren in einem
autobiografischen Text geschrieben. Freilich mit einem leichten Erschrecken.
Das Erschrecken ist längst gemildert durch Lebenserfahrung. In
Goethes »Tasso« sagt Antonio: »Und wenn du ganz dich zu verlieren scheinst,/ Vergleiche dich! Erkenne, was du bist!«
Irgendwann muss man sagen: Was immer ich tue - die Menge der Möglichkeiten ist
begrenzt. Aber das befreit auch.
Wovon?
Von Konkurrenzdenken
etwa.
Sie
sind längst in der Rolle des Lehrers.
Nein. Aber es gibt manchmal jüngere Kollegen, die um Rat fragen.
Es ist also schön, wenn man das, was man von dem Beruf weiß, weitergeben kann.
Talent ist ein Geschenk, aber Handwerk kann man lernen. Die Fähigkeit, Fragen
an andere Menschen zu stellen, gehört zu unseren wichtigsten Erbgütern.
Sie
sagten, Sie seien kein unbedingt positiv denkender Mensch.
Ich kann mich ja nicht herausnehmen aus der politischen, sozialen
Realität. Ich kann nicht übersehen, dass die Welt ungefragt heranrückt. Auch
wenn man mit Freunden bloß einen schönen unbedenklichen Abend haben will - irgendwann
werden die Gesichter ernst. Ich bin dankbar dafür, dass mich die Katastrophe
verschont, aber das macht mich doch nicht glücklicher.
Wer
sich als Verschonter fühlt, der weiß nur nichts von Schuld?
Die Globalisierung hat einen Vorteil: Auch die Zuständigkeit für
den Zustand der Welt wurde globalisiert. Wenn zum Beispiel demnächst die
Fragekataloge auf die Hartz-IV-Betroffenen zukommen,
dann
ist da nichts mehr mit Datenschutz, da muss das letzte Hemd offenbart, da
müssen die intimsten Schubfächer aufgezogen werden, da geht es an die Würde des
Menschen - und das alles geht ja nicht an mir vorbei, nur weil ich eine Tätigkeit
in einem so fensterlosen Raum wie einem Theater ausübe.
Was ist das
Schlimmste dabei?
Vielleicht, dass man nicht wirklich helfen kann. Dass man in
dieser Not vieler zu dummen klugen Sprüchen neigt und möglicherweise wieder
zu einem vereinfachenden politischen Denken.
Im Fernsehen läuft Krieg, und wir essen Abendbrot. Stimmt der Satz auch
für Sie?
Selbstverständlich. Ich stelle allerdings fest, dass ich manchmal
tagelang kein Fernsehen schaue. Wahrscheinlich instinktiv. Das ist
Selbstschutz vor dem fatalen journalistischen Grundgesetz, nur eine schlechte
Nachricht sei eine gute.
Ihr Bruder ist Korrespondent in Peking.
Auch er leidet unter diesem ungeschriebenen Gesetz und also auch
unter einer bestimmten Berichterstattung über China. Nach den olympischen
Spielen in Athen stand in einer Berliner Zeitung, die chinesischen
Olympioniken seien nur deshalb so gut, weil sie unter der Knute der
Parteiführung stehen. Da frage ich mich, für wie blöd diese Journaille mich
hält. Aber es gibt immer wieder Hoffnung.
Zum Beispiel?
Die Montagsdemonstrationen jetzt. Deren konkreten Sinn will und
kann ich nicht untersuchen, aber es beruhigt mich, dass es sie gibt. Die
Menschen lassen sich trotz Edeka-Tüte in der Hand, die ich ja auch trage, nicht
das Hirn vernebeln.
Tragisch:
Wir reagieren immer erst, wenn es an die Substanz geht.
Über diesen Umstand mache ich mir keine Illusionen mehr.
Das Theater reagierte in der DDR listig oder frech aufs
Politische. Diese Kraft ging verloren.
Ja. Der Druck in der DDR war in manchen Phasen so groß, dass
selbst in den Klassikern bestimmte Sätze pure Gegenwart aussprachen. Als
Wallenstein sagte Eberhard Esche: »Ersparen Sie's, uns aus dem Zeitungsblatt
zu melden, was wir schaudernd selbst erlebt«. Esche wollte den Lacher wirklich
nicht, aber er kam jeden Abend.
Der
Satz hatte viel mit den Erfahrungen des Publikums zu tun, es waren gemeinsame
Erfahrungen.
Das ist der Punkt. Wer sitzt jetzt im Theater? Viele sehr
einzelne. Die bittere soziale Erfahrung, die Angst davor, selber betroffen zu
werden - wer gibt sie zu? Und verstärkt kaufen nur jene eine Theaterkarte, die
auch sonst ganz gute Karten im Leben haben. Vielleicht wird das anders, wenn
der Druck auch scheinbar sichere Schichten erfasst. Dann könnte sich auch
wieder die Erwartung ans Theater ändern.
Sie waren in schwieriger Zeit Intendant. Würden Sie's noch mal machen?
Nein. Ich weiß genau, wie meine siebeneinhalb Jahre hier waren.
Ich habe viel gelernt, aber auch viele Federn gelassen. Ich möchte diese Zeit
nicht missen. Aber ich weiß: Man muss Leitung, egal welchen Betriebes, so zu
seiner persönlichen Sache machen, dass für Privatleben nichts mehr bleibt. Der
Preis wäre mir heute zu hoch. Und obwohl ich vorausschicken muss, dass ich kein
Problem mit meinem Alter habe: Ich bin nicht mehr wach und kräftig genug, um
mich noch mal zutiefst in so eine Sache zu werfen.
Man
muss anders, als es Ihnen möglich war, mit diesem gesellschaftlichen System
zusammengegangen sein, um zu wissen, wie der Hase läuft?
Was an Kompetenz gefordert ist, holt einer wie ich nicht mehr auf.
Ist das
ein Plädoyer für den West-Chef auch im Osten?
Das würde ich so absolut nicht sagen. Es ist ja vielleicht nicht
von Nachteil, zu wissen, was mal möglich war. Es ist auch nicht schlecht, zu
wissen, welchem Druck man ausgesetzt war. Ich habe damals mit dem
Kulturminister Hans-Joachim Hoffmann viele Gespräche über Ideologie, über
Stücke führen müssen. Das war nicht immer angenehm, aber es war aufreizend
schön, denn man musste sich gut vorbereiten. Man musste sich für solch ein
Gespräch wappnen, und zwar nicht mit dem Taschenrechner, sondern mit dem, was
man mit dem Theater wollte, und mit dem, was man gelesen hatte, und das durfte
durchaus auch mal Lenin sein. Aber ich hatte mit dem Minister nur ein einziges
Gespräch über Geld. Nicht über meins, das war staatlich reguliert, sondern über
Geld fürs Theater.
Hat sich je einer für Ihre Erfahrungen als Intendant interessiert? Der
Nachfolger zum Beispiel?
Nein. Das habe ich persönlich nicht bedauert, ich bin da nicht eitel,
ich fand es nur nicht sehr klug. Wie ich es auch nicht klug fand, dass zu
Wendezeiten kein Kultursenator den Minister Hoffmann mal zu einer Tasse Kaffee
eingeladen hat: Erzählen Sie doch mal ein bisschen - wie war es denn, wenn die
Bildhauer keine Steine mehr hatten und das Material musste aus dem Tagebau
geholt werden? Oder wie wir die Maskenbildner in den Verband Bildender
Künstler kriegen mussten, damit sie den richtigen
Pinsel
bekamen - die Handwerksmittel waren nämlich kontingentiert, und der Verband
wurde bei der Zuteilung bevorzugt. Solche Geschichten! Das hat alles mit Erfahrung
zu tun, und da springe ich rüber zum gegenwärtigen Arbeitsmarkt: Natürlich
ist ein Dreißigjähriger vitaler, hat weniger Ersatzteile im Körper. Aber ihm
fehlt Erfahrung. Wenn eine Gesellschaft glaubt, darauf verzichten zu können,
fügt sie sich schweren Schaden zu. Wenn man Menschen nicht arbeiten lässt, wie
sollen sie Achtung vor der Arbeit bekommen?
So stirbt auch Achtung vorm Schöpfertum.
Das Ende könnte ein Vandalismus sein, vor dem alle ratlos stehen und
rätseln, woher er bloß kommt.
Dieter
Mann, hat Sie je die Abhängigkeit belastet, der Sie in Ihrem Beruf ausgesetzt
sind?
Ich musste sie nie wirklich durchleben, ich habe viel Glück
gehabt. Aber diese Abhängigkeit kann für einen Schauspieler natürlich zum
Problem werden. Wenn der wunderbare Kollege Peter Dommisch
auf dem Theatervorplatz saß, ein Regisseur vorbeikam und grüßte, dann sagte
Pit, der Urberliner, immer: »Nicht grüßen - besetzen!«
Von Ihrer Arbeit bleibt nichts, sie ist die flüchtigste Kunst,
Die Dramaturgin Dr. Lilly Leder sagte in der ersten Vorlesung, die
ich an der Schauspielschule hörte, die darstellende Kunst sei eine transitorische
Kunst. Da war ich nun von meiner Werkbank gekommen, war zutiefst erschrocken
über dieses mir unbekannte Wort und dachte, mich in der Adresse geirrt zu haben.
Aber das Wort trifft's: Es ist das Schicksal der
Schauspielerei, dass nichts Festzumachendes bleibt.
Die Dichter sind da besser dran.
Und die Maler! Ronald Paris hatte ein Bild in seiner Wohnung: »Thüringer
Hohlweg«. Das wollte ich unbedingt haben, nachdem ich überhaupt erst
mitgekriegt hatte, dass Maler ihre Bilder auch verkaufen. Aber Paris druckste
herum, wollte nicht, am Ende kaufte ich eine »Boddenlandschaft bei Gewitter«.
Sehr viel später fragte ich Ronald, warum er mir den »Hohlweg« verweigert hatte.
Er sagte: »Ich kann so nicht
mehr malen.« In dem Moment beneidete ich den Maler um
die Möglichkeit, etwas Unwiederbringliches bewahren zu können.
Herr Mann,
welche Hoffnung haben Sie gänzlich aufgegeben?
Diese naive, trotzdem schöne Illusion: Wir spielen heute Abend
ganz toll Theater, alle sind glücklich, und ab morgen sind sie bessere
Menschen.
Was
bedeutet Ihnen Ruhm, was ist für Sie Erfolg?
Ich erzähle von meiner »Unterwegs«-Premiere: Ein Abend wie ein
Traum. Die Zuschauer glücklich, ich auch. Die Garderobe voller Blumen und
Geschenke. Am nächsten Abend die zweite Vorstellung. Die Garderobe leer und
nackt. Ernst Kahler, der meinen Vater spielte, legt den Arm um meine Schulter
und sagt: »Siehste, Dieter, ab heute ist es Arbeit.«
Was
haben Sie Ihren Eltern zu verdanken?
Dass sie es geschafft haben, mich nach diesem furchtbaren Krieg zu
ernähren - der meinen Vater ein verkürztes Bein kostete, und in dem meine
Mutter nächtelang an der Nähmaschine saß. Dass die Eltern uns kein Buch
mitgeben konnten, das ist, nachdem man zwei Mal ausgebombt wurde, keine
Schande. Die schönste und wichtigste Lebenszeit meiner Eltern fiel dem Krieg
zum Opfer, deshalb empfand ich den Nachkrieg als großes Glück. Denn es klingt
sehr dramatisch, ist aber wahr: Ich habe als Kind gehungert und wurde zwei Mal
wegen Unterernährung verschickt.
Nun
doch endlich zur DT-Ehrenrnitgliedschaft: Ein
Förderpreis ist das nicht.
Stimmt, es hat etwas Summierendes. Hoffentlich kein Nekrolog. Ich
gebe aber trotzdem zu, dass ich mich sehr darüber gefreut habe. Dieses Theater
war und ist noch immer mein Leben, jedenfalls mein Arbeitsleben. Es ist schon
ein merkwürdiges, schönes Gefühl, wenn Leute kommen und sagen,
Herr Mann, ich habe Sie noch als Wibeau oder als den
und den gesehen. Mit mir selber ist ja eine Generation älter geworden, für die
wir mit unserem Spiel ein bisschen lebensbegleitend waren.
Das Ende der DDR war ein Einbruch in diesem Miteinander.
Aber nachdem nun alle auf Mallorca waren, besinnen sich doch
viele Menschen wieder auf andere Werte. Und sie kommen ins Theater. So sie es
sich leisten können. Diesen bitteren Zusatz muss ich machen, mir ist nicht wohl
dabei.
Was erwarten Sie noch vom Leben?
Auch wenn's banal klingt: Gesundheit ist das größte Geschenk, das
ich erhoffe. Und das meint Körper und Seele gleichermaßen. Ein wenig kann man
ja selber dafür tun. Auch für die seelische Gesundheit anderer Menschen - indem
wir mit dem Theater ein bisschen Glück oder Hoffnung ausstreuen.
Theater machen Sie jetzt in einer Zeit der Texte-Zertrümmerungen.
Einem Dichter zu dienen, halte ich für ausgesprochen ehrenvoll.
Ehrenvoller, als ihn zu vergewaltigen oder anzupissen. Brecht hat jene, die
sich klüger als Lessing oder Kleist dünkten, Verschlimmbesserer
genannt.
Es ist die Zeit der sehr umstrittenen Dominanz von Regisseuren.
Denken Sie an Ihre Anfangsfrage und meine Antwort: Ich bin ruhig.
Wollen wir mal gucken, wie alles in ein paar Jahren aussieht. Es wechseln die
Zeiten.
Sie sind noch neugierig?
Ja. Aber ich bin in einem Alter, in dem die Grenzen zwischen Toleranz
und Gleichgültigkeit fließend werden. Da setzt mein Misstrauen ein - mir selbst
gegenüber.
Interview:
Hans-Dieter Schutt