3. Im Sog des ersten Weltkrieges
(1914-1920)
3.3 Mangel an männlichen Schülern
Unbeeindruckt vom Kriege, beeindruckt
aber offenbar von den von ihm ausgelösten und
beschleunigten sozialen Prozessen, bildete sich 1916 in Berlin ein
Gründungsausschuß für ein Deutsches Nationaltheater. Historisch kam solch
bürgerliches Trachten zu spät, aber die erwachende
Arbeiterklasse machte Forderungen geltend.
«Irgendwo», wurde geschlußfolgert, «muß das Volksganze ohne Unterschied der Bildung und des Besitzes eine Stätte
finden, wo es sich restlos als Einheit fühlen darf.» (3.22)
Zu den Ausschußmitgliedern gehörten
u.a der Dramatiker Gerhart Hauptmann, der Komponist
Engelbert Humperdinck, der Maler Max Liebermann, aber auch ein Politiker wie
Gustav Stresemann. (3.23) Sie machten sich zu Sprechern der Verbitterung «breitester
sozialer Kreise» und forderten, «daß dem kunstempfänglichen und aufwärtsstrebenden
Arbeiter, Handwerker und Angestellten nicht Worte vorenthalten bleiben, die,
als höchste Errungenschaft des Volksganzen, auch dem Volksganzen wieder zugute
kommen sollen und nicht bloß einem kleinen Luxuspublikum.» (3.24) Angestrebt wurde ein Großraumtheater mit
speziellen Nebenräumen für die Arbeiter. Dort sollten sie an vorher bestellten
Tischen ein mitgebrachtes Abendbrot und ein Bier verzehren können. Die
organisatorische Vorbereitung betrieb Edmund Reinhardt. An der Verfertigung der
«Denkschrift über die Gründung eines Deutschen National-Theaters zu Berlin»
beteiligte sich Max Reinhardt. Und im Juli 1917 wurde im Deutschen Theater die
«Deutsche Nationaltheater Aktiengesellschaft» gegründet. Als Spielstätte vorgesehen
war der Zirkus Schumann. Aber der Krieg verzögerte den Umbau des Gebäudes.
Folgen des Krieges anderer Art meldete der Berliner
Börsen-Courier mit Datum vom 28. Juni 1916: «In der Schauspielschule des
Deutschen Theaters war auch in ihrem elften Unterrichtsjahr — wie im
vorhergehenden - die Einwirkung des Krieges durch den Mangel an männlichen
Schülern wahrnehmbar. Auch mehrere Lehrer stehen noch im Feld. Von den
ehemaligen Schülern sind gefallen: Werner Lotz, Mitglied des Deutschen
Theaters, Otto Montua, Mitglied der Volksbühne, und Wilhelm Glasen vom
Hoftheater in Dessau.» Offenkundig unter dem Eindruck solcher Nachrichten
schrieb
Gerda Müller (Absolventin 1917)
damals Gerda Müller, die später
prominente Schauspielerin des Deutschen Theaters und das Profil der Schule
mitbestimmende Lehrerin, ins Absolventenbuch: «Trennung ist unser Los -» (3.25)
Der Berliner Börsen-Courier tat im übrigen so, als
verlaufe alles ganz normal. «Auch in diesem Schuljahr gestattete Prof. Dr.
Gutzmann den Schülern der Schauspielschule, seinen Vorlesungen an der
Universität unentgeltlich beizuwohnen.» Als neue Lehrkräfte der Schule, wurde
berichtet, konnten
Hermine Körner
Ferdinand Gregori
Hermine
Körner und Prof. Ferdinand Gregori gewonnen werden. Dann hieß es: «Während des
Schuljahres fanden auf der Probebühne des Deutschen Theaters fünf Szenenabende
statt, an denen unter Verzicht auf Dekoration, Kostüm und Maske einzelne Szenen
aus klassischen und modernen Werken zur Aufführung gelangten.» Die Schule blieb
also keineswegs unberührt von den Zeichen der Zeit.
In Rußland hatte 1917 die Oktoberrevolution gesiegt und
ihre Friedensbotschaft in die Welt geschickt. In Deutschland machte sich die
allgemeine Auflehnung gegen den Krieg in Äußerungen Luft, wie sie sich zum
Beispiel im Absolventenbuch der Schauspielschule finden. llia Motylew trug im
Mai 1918 ein: «Blut fließt, Menschengebeine häufen sich zu Todesbergen, die
Welt verwandelt sich in ein Riesenjammertal und der schaurige Haß droht König
der entarteten Menschenseelen zu werden... Die Menschen sind nicht schlecht,
und wenn einmal ihre Herzen in warmer Liebe zueinander zu schlagen anfangen, so wird sie kein Kanonendonner übertönen können.» (3.26)
Für solche und ähnliche Stimmen und Sehnsüchte vor der
Novemberrevolution, angesichts der Aktionen des jungen Spartakusbundes unter
Führung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, aber auch für Enttäuschung und
Zorn nach der Niederlage der Revolution konnte ein Theater, gar eine Massen-
und Arenabühne ein geistiges Sammelbecken, ein Ventil sein. Die neue Regierung
nach Abdankung des Kaisers schien das begriffen zu haben. Sie unterstützte Max
Reinhardts Streben nach einem Großraumtheater. Mit Datum vom 15. April 1919
schrieb der Minister des Innern an das Berliner Polizeipräsidium: «In diesen
Tagen, wo (die) geistigen Bewegungen in den Massen mehr wie je Bedeutung
erlangen, ist den Theatern besondere Aufmerksamkeit zu schenken, insbesondere
denjenigen, die dazu berufen sind, literarisch wertvolle Stücke in wirklich
guten Aufführungen gegen verhältnismäßig geringes Entgelt der großen Masse zugänglich zu machen. Ein Theater großen Stils in diesem
Sinne ist das geplante Große Schauspielhaus.» (3.27)
Den Minister interessierte die möglichst rasche Eröffnung des umgebauten Zirkus
Schumann, was am 28. November 1919 in nichtöffentlicher Vorstellung vor
geladenen Gästen geschah. Gespielt wurde «Die Orestie» von Aischylos, Regie
führte Max Reinhardt, die Choreinstudierung besorgte Berthold Held.
Herbert Jhering wertete sarkastisch: «Das Große
Schauspielhaus blieb ein Ausdruck für den Machtwahn des Theatralischen. Es war
als Idee konzipiert in einer Zeit, die diesen Machtwahn begünstigte, und ein
Zeichen für alles, was diese Zeit bewegte: Geschäftssinn, Quantität,
Raumwillen, Architektur, Repräsentation.» (3.28)
Immerhin wurden über ein Abonnement-System in jeweils rund 60 Vorstellungen
wesentliche Werke der Weltliteratur einem Massenpublikum vorgeführt, das sich
aus allen Schichten der Berliner Bevölkerung zusammensetzte.
Anmerkungen:
3.22 Denkschrift über die
Gründung eines Deutschen National-Theaters zu Berlin, Berlin 1916, S. 5 Zurück zum Text
3.23
Gustav Stresemann (1878-1929) schuf als Außenminister 1923/1929 die außenpolitischen Grundlagen für das Wiedererstarken des deutschen Imperialismus. Zurück zum Text
3.24
Denkschrift, a.a.O., S. 7 Zurück zum Text
3.25
HS-Archiv, Absolventenbuch Zurück zum Text
3.26
Ebenda Zurück zum Text
3.27
Staatsarchiv Potsdam, Pr. Br. Rep. 30 Berlin C, Polizeipräsidium, Th Nr. 11 80, Bl. 326
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3.28
Herbert Jhering, Max Reinhardt, in: Kampf ums Theater, a.a.O., S. 108 Zurück zum Text
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