4. Alltag der Ausbildung
(1920-1933)
4.4 Der Hausherr kehrt zurück
Mit Einführung der Rentenmark im
Jahre 1923 endete die Inflation. Die pekuniären Probleme der Berliner Theater (4.26)
waren damit aber nicht behoben. Jetzt maßen
die Zuschauer den Wert einer Theaterkarte erst recht an den Preisen für
Lebensmittel und Konsumgüter. Es war daher
kein Zufall, wenn in jenen Jahren mit
dem Zusammenschluß mehrerer Theater
versucht wurde, sparsamer zu wirtschaften.
(4.27)
Max Reinhardt setzte auf Boulevardtheater, den theatralischen Ausdruck der Lebenseuphorie kleinbürgerlicher Schichten in den zwanziger Jahren. Am 1.
November 1924 eröffnete er — immerhin mit Goldonis
«Diener zweier Herren» — die Komödie am Kurfürstendamm. Er selbst
führte Regie. Er hatte mittlerweile wieder
die künstlerische Oberleitung seiner
Theater inne.
Diesem Schritt Reinhardts war eine
regelrechte Pressekampagne vorausgegangen. Am 14.
Februar 1924 meldete die Berliner
Börsen-Zeitung: «Reinhardt verläßt Europa endgültig? Wie aus
dem Freundeskreise Max Reinhardts verlautet, wird dieser Europa für immer
verlassen. Man baut ihm bekanntlich augenblicklich in New York ein großes Theater.» (4.28) Wenig später, am 26.
März 1924, hieß es: «Max Reinhardt... wird in der nächsten Spielzeit die
künstlerische Oberleitung des Deutschen Theaters und der Kammerspiele
übernehmen und mehrere Werke an diesen Bühnen inszenieren.» (4.29)
Prompt folgte unter der Überschrift «Theater von der
Stange» ein polemischer Artikel, in dem es hieß: «Tatsache jedenfalls ist, daß
das Deutsche Theater in diesem Winter ein Jammerbild an Unentschiedenheit und
Urteilslosigkeit geboten hat, daß der Spielplan geradezu trostlos geworden
ist.» Mit einer «künstlerischen Oberleitung» Reinhardts, hieß es, sei dem
Berliner Theaterleben und den Bühnen in der Schumannstraße nicht gedient. «Es
geht nicht an, daß Reinhardt in Wien sitzt und einen Teil des Jahres womöglich
in Amerika und zwischendurch sich einmal auch um die Berliner Bühnen
kümmert...» (4.30)
Der Entschluß Reinhardts, ab 1925 erneut auch die
Direktion zu übernehmen, mag mit dem finanziellen Defizit seines
Theaterunternehmens zusammengehangen haben. Sein Ruf als Direktor und Regisseur
hatte nach wie vor außerordentliche Werbekraft. Die publikumswirksame, seinen
theaterästhetischen Intentionen entsprechende Spielplangestaltung war immer
schwieriger geworden. Er wisse nicht, klagte er, ob sich die «Angleichung des
deutschen Theaters an westliche Methoden vermeiden lassen» (4.31)
werde. Die «rasche und für jedes Gefühl mit weiten Ausmaßen
schon begonnen habende Amerikanisierung Berlins» (4.32)
drohe, das Repertoiretheater zugunsten der Serie (4.33)
zu verdrängen.
Den ökonomischen Zwängen sich beugend betrieb Edmund
Reinhardt die Umdisponierung des Unternehmens zu einer nicht auf Gewinn
orientierten «Deutsches Theater zu Berlin GmbH», der gegen den Einspruch des
Berliner Magistrats vom Oberpräsidium der Provinz Brandenburg die
Gemeinnützigkeit zuerkannt wurde und die sich mit Kündigungen von Schauspielern
und Angestellten zu sanieren suchte. (4.34)
Vor dem Hintergrund dieser Auseinandersetzungen drohten
die Reinhardts mit der Schließung der Schule. Berthold Held hatte im Dezember
1925 arqlos bei Edmund Reinhardt angefragt: «Sie sagten kürzlich, daß Sie es
als meine Verpflichtung ansehen, unsere Schüler zuerst dem Deutschen Theater
anzubieten. Herr Direktor Licho dagegen war der Meinung, daß er darauf
verzichte. In Wirklichkeit scheint es nicht viel Zweck zu haben, denn die in
diesem Jahre engagierten Anfänger, durchwegs ausgesucht begabte junge Menschen,
gelangen zu gar keiner Beschäftigung und gehen unqlücklich und unzufrieden
herum.» (4.35) Schon zwei Tage später antwortete nicht
Edmund Reinhardt, sondern Licho: «Herr Direktor Licho
erinnert sich nicht daran, Ihnen gesagt zu haben, daß er darauf verzichte, daß
Sie die Schüler der Schauspielschule des Deutschen Theaters zuerst dem
Deutschen Theater anbieten. Das Urteil über angemessene Beschäftigung der
Anfänger steht doch wohl nur der jeweiligen Direktion des Deutschen Theaters
zu. Wenn Sie jedoch anderer Meinung sind, so hätte die Fortführung der Schule
für die Herren Reinhardt keinen weiteren Sinn und sie würden in diesem Falle
daran denken, die Schule evtl. ganz aufzulösen.» (4.36)
Solche «Ohrfeige» war wenig dazu angetan, das Engagement
Helds für die Schule zu bestärken. Dennoch stritt er weiterhin für deren
Interessen. Bemerkenswert ist sein stetes Bemühen, eine Konkurrenz anderer
Schulen, wenn nicht zu verhindern, so doch wenigstens zurückzudrängen.
Anmerkungen:
4.26 Unter der Überschrift
«Berliner Theaterkrisen» schrieb die Berliner
Börsen-Zeitung im Juli 1924: «Die Folgen
des verkrampften und krankhaften Wirtschaftslebens, besonders die materielle Seite des Kunstlebens hat schwer mit den Nachwehen der Geburt der Rentenmark zu kämpfen. Es gibt heute fast kein Theater mehr in Berlin, das nicht in den letzten Wochen schon einmal am Rande des
Abgrundes gestanden hätte. Vergebens
versucht man sich dieser
Not zu erwehren, indem man anstelle des
literarischen Spielplanes Operetten macht...»
Berliner Börsen-Zeitung, 11. Juli 1924 Zurück zum Text
4.27 In der Spielzeit 1925/26 zum Beispiel arbeiteten die Staatsbühnen
in einem Verbund von Schauspielhaus am
Gendarmenmarkt (Intendant Prof.
Leopold Jeßner), Opernhaus Unter den Linden (Intendant Prof. Dr. Max von Schillings), Schillertheater und Oper am Königsplatz unter Oberaufsicht des Ministeriums für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung; die Städtische Oper und das Apollo-Theater
unter Heinz Tietjen als Städtische Oper
A.-G., Eigentümer Stadtgemeinde
Groß-Berlin; die Barnowsky-Bühnen
(Theater in der Königgrätzer Straße,
Die Tribüne und das Komödienhaus) unter
der Direktion von Victor Barnowsky,
Eigentümer die Grundstücksverwertungs-Gesellschaft m.b.H.; die Saltenburg-Bühnen
(Deutsches Künstlertheater, Theater am Kurfürstendamm, Theater am Schiffbauerdamm,
Lustspielhaus, Wallner-Theater) unter der
Direktion von Heinz Saitenburg; das
Lessing-Theater, das Kleine Theater und
das Trianon-Theater unter der Direktion von Arthur Hellmer; die Vereinigten Bühnen
(Residenz-Theater, Thalia-Theater und
Theater in der Kommandantenstraße)
unter der Direktion von Dr. Martin Zickel. (Vgl. Deutsches Bühnen-Jahrbuch
1926) Zurück zum
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4.28 Berliner
Börsen-Zeitung, 14. Februar 1924
4.29 Berliner Börsen-Zeitung, 26. März 1924
4.30 Berliner Börsen-Zeitung, 30. März 1924 Zurück zum Text
4.31 Max Reinhardt in: Neue Freie Presse, Wien 2. September 1925
4.32 Ebenda
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4.33 Mit «Serie» ist im Unterschied zum Repertoire-Theater eine Spielplan-Praxis gemeint, die darin besteht,
eine Inszenierung Abend für Abend so lange zu spielen, bis das Publikum aus bleibt. Zurück zum Text
4.34 Die Angelegenheit erregte Aufsehen
in Berlin, war doch damit Befreiung von der Lustbarkeitssteuer verbunden. «Soll Reinhardts Beispiel anstecken?» fragte der sozialdemokratische «Vorwärts» und meldete: «Gemeinnützigkeitsseuche der Privattheater
droht. In dem Streit um die behauptete
Gemeinnützigkeit der in der
"Deutschen Theater G.m.b.H."
zusammengefaßten Reinhardt-Bühnen ist
die Stadt Berlin unterlegen...» Vorwärts,
Berlin 4. März 1928, 1. Beilage. Ein Jahr
später berichtete die gleiche Zeitung von einer Debatte im Landtagsausschuß:
«Kultusminister Dr. Becker teilte
mit...: Die Gemeinnützigkeit des
Deutschen Theaters und der Kammerspiele
sei ein Ruhmesblatt in der Geschichte
der deutschen Theaterkunst und habe den finanziellen Zusammenbruch dieser Bühnen verhindert.» Vorwärts, Berlin 14. März 1929 Zurück zum Text
4.35 Brief v. Berthold Held an Edmund Reinhardt v. 15.12.1925, HS-Archiv,
Bl. 595 Zurück
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4.36 Brief v. A. E. Licho an Berthold Held v. 17.12.1925, HS-Archiv, Bl. 594 Zurück zum Text
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Konkurrenz“
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