4. Alltag der Ausbildung (1920-1933)

 

 

geste

Arbeit an der „Geste“

4.8  Die Kultur der Geste

Nach der Beschreibung des Entwicklungsstandes der Schauspielkunst schlußfolgerte Kayßler: «Die Notwendigkeit der höheren Natürlichkeit muß erkannt und die praktischen Wege zu ihr müssen gefunden werden. Ein Weg zu ihr ist die Kultur der Geste. Sie besteht sicherlich nicht darin, daß man gegebenenfalls die Verrenkungen archaistischer Kunstzeitalter imitiert, um originell zu erscheinen... Zunächst müssen wir lernen, die Geste zu begrenzen, lernen, ihr Maß zu bestimmen, um ihre Bedeutung überhaupt zu erkennen. Wir kennen sie alle noch nicht. Wir machen allabendlich hunderttausende überflüssiger und darum unkünstlerischer Bewegungen... Wir müssen eine geistige Schauspielkunst anstreben, die alles unnötige Beiwerk, das nicht dem Geiste des Kunstwerkes dient, verwirft und nur das in diesem hohen Sinne Zweckmäßige anerkennt, sei es Dekoration, Geste oder stimmliches Mittel.» (4.67)

 

Solcherart Forderung verband Kayßler mit Überlegungen zum Arbeitsprozess des Schauspielers, die, wie bei der Eysoldt, die Führung des Geistes beanspruchen. «Spielen heißt: wissen, wie man es macht, und setzt die Mitwirkung vollsten Bewußtseins voraus. Der Schauspieler unterbricht sein Leben, wenn er spielt, denn er hat sein Leben vergessen. Dies klingt wie ein Widerspruch, geht aber so zu: Der Schauspieler versetzt sich selbst in einen Zustand, in dem sein Bewußtsein für das Leben erlischt, dafür aber ein anders geartetes, künstlerisch aufgeklärtes Bewußtsein erwacht, das Bewußtsein der menschlichen Traumgestalt, die er darstellen will, und als dieser Traummensch handelt er nun im wahrsten Sinne bewußt, d.h. mit der Ökonomie des Künstlers...» (4.68)

 

Obwohl Kayßler die «Mitwirkung vollsten Bewußtseins» forderte, umging er den Widerspruch, empfahl er dem Schauspieler, sich gewissermaßen ins Bewußtsein der anzustrebenden Traumgestalt zurückzuziehen. Der Schauspieler unterbricht sein Leben nicht, wenn er spielt, vielmehr gibt er ihm durch Arbeit und Spiel bewußt eine artifizielle Dimension. Kayßler konstatiert hier also einen Verzicht, nämlich auf das «Bewußtsein für das Leben», der seine Auffassung von Schauspielkunst brauchbar machte für «Blut- und Gefühlsschauspielerei» während der Nazizeit. Die theoretischen Unsicherheiten an der Schule ironisierte Gerda Wellner mit einem Zitat von Arthur Schnitzler aus seinem Versdrama «Parazelsus», das sie 1927 ins Absolventenbuch eintrug: «Wir spielen alle, wer's weiß, ist klug.» Absolventen dieser Jahre waren u.a. Alice Treff, Ilse Fürstenberg, Fritz W. G. Eckert (1926), Paul Dahlke und Hans Fiebrandt (1928).

 

 

 

Anmerkungen:

 

4.67  Friedrich Kayßler, Das Schaffen des Schauspielers (1913), in: Wandlung und Sinn, Potsdam 1943, S. 47/48

4.68  Ebenda, S. 34

 

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