4. Alltag der Ausbildung
(1920-1930)
Berthold
Held mit Absolventen des Jahres 1928
4.9 Die Erziehung des Schauspielers
«Ich sage absichtlich Erziehung und nicht Ausbildung», schrieb Berthold Held, «weil die Ausbildung nur die Erlernung eines Teilgebietes, die Erwerbung
von Fähigkeiten bedeutet, die Erziehung dagegen das Wesen des ganzen Menschen umfasst.
Die Schauspielkunst in ihren letzten Forderungen... verlangt den ganzen Menschen, die Beherrschung aller geistigen,
seelischen und physischen Kräfte, die
leichte Beweglichkeit des Körpers sowohl wie das rasche Erfassen aller Gefühlszustände. Erfassen - und
wiedergeben!» (4.69) Held orientierte
auf die Persönlichkeit: «Unterricht kann schädigen, wenn er anstatt das Wesen
des Individuums zu erkennen und dessen Besonderheit zu fördern, Selbstgewolltes
einzwängen will. Der Lehrer soll keine Treibhauspflanzen züchten... Die Aufgabe
eines vernünftigen Lehrers ist es, darauf zu achten, daß durch den Unterricht eines
reich veranlagten Menschen nicht die Entwicklung der Besonderheit seiner
Persönlichkeit Schaden nehme, denn diese muß dem Künstler gewahrt werden. Das
ist die Grenze, an der der Lehrer sich zurückzuziehen hat.» (4.70)
Zur Erziehung des Schauspielers äußerte sich auch
Reinhardt: «Wir können jedenfalls nichts Besseres tun, als die uns angeborenen
Eigenschaften zu entwickeln, und in der Schauspielschule, die dem Deutschen
Theater angegliedert ist, bin ich nicht nur darauf bedacht, die Technik der
Ausdrucksmittel gründlich zu lehren, sondern vor allem das Persönliche,
Einzigartige in dem jungen Nachwuchs aufzuspüren und zu entfalten und hüte
mich, es durch noch so glänzende Vorbilder zu unterdrücken. Diese Arbeit muß
auf der Bühne fortgesetzt werden, denn viele finden erst spät den Weg zu sich
selbst. Die Natur bringt in ihrem unerschöpflichen Reichtum nicht zwei gleiche
Lebewesen hervor und das ärmste hat noch seine nur ihm zugehörende Eigenart,
die reizvoller und fruchtbarer ist als ein ganzes Schema von Fertigkeiten und
Fixigkeiten.» (4.71)
Ilse Fürstenberg Paul
Dahlke Fritz Eckert
Absolventen der Jahrgänge 1924 bis 1926
In seiner Rede zur Eröffnung des
Schauspiel- und Regieseminars 1929 in Schönbrunn (Wien) sagte Reinhardt zu den
Schülern, sich auf die Berliner Erfahrungen stützend: «Ich rate Ihnen
ernsthaft: nehmen Sie jede Gelegenheit wahr, sich sprachlich, gesanglich,
körperlich, sportlich auszubilden... Was Sie jetzt nicht erlernen, werden Sie
später kaum mehr nachholen können. Aber damit ist Ihre, ist unsere Aufgabe
keineswegs erschöpft: Was dem Theater wie aller Kunst am meisten not tut, ist
die Persönlichkeit. Nun, Persönlichkeit ist freilich nicht etwas, was man
jemand beibringen kann, dem dieses höchste Glück der Erdenkinder nicht gegeben
ist. Man kann es nicht erlernen und kann es - das möchte ich Ihnen mit
besonderem Nachdruck sagen - gewiß nicht spielen, nicht vortäuschen, am wenigsten durch äußerliche Extravaganzen, durch genialische
Allüren ersetzen.» (4.72)
Dann benennt Reinhardt den unabdingbaren Kern
schauspielerischer Arbeit: «Seien Sie wahr! Hören Sie auf, Komödie zu spielen.
Fangen Sie lieber gar nicht damit an. Weder im Leben, noch auf der Bühne. Die
stärkste Macht des Komödianten ist die Wahrheit, die letzte, die innerlichste,
brennende Wahrheit. Zeigen Sie den Geschminkten mutig Ihr ungeschminktes Antlitz
und überlassen Sie ihnen, die weder Beruf noch Zeit haben, zu sich selbst zu
kommen, die falschen Posen, die konventionellen Lügen, das unechte Pathos und
die Fabrikware gebrauchsfertiger Gefühle. Kaufen Sie nichts, übernehmen Sie
nichts, erzeugen Sie alles selbst. Ich hasse die Schauspieler, die nur am
Bühnentürl und am Wirtshaustisch groß sind oder groß tun. Brüllen Sie nicht.
Werden Sie still und andächtig. Gehen Sie viel spazieren und gehen Sie allein
spazieren. Sprechen Sie mit sich selbst, laut und eindringlich. Fragen Sie
sich, antworten Sie sich, und hören Sie sich aufmerksam zu. Lernen Sie sich
selbst kennen. Ertappen Sie sich unbarmherzig auf jeder Lüge. Werden Sie
wesentlich. Es ist nicht die Welt des Scheins, die Sie heute betreten, es ist
die Welt des Seins. Nicht, wer etwas macht, kann sich auf die Dauer in ihr
behaupten, nur der etwas ist. Halten Sie eine herzliche, heitere und
ritterliche Spielkameradschaft miteinander... Diese Kunst ist eine
gemeinschaftliche Kunst, eine Ensemblekunst und nur im Ensemble, in dem einer
für alle und alle für eine Sache wirken, blüht das unverwelkliche Wunder des Theaters.» (4.73)
Reinhardts leidenschaftlicher Ruf nach Wahrheit ist zwar
kein politisches Programm, verdient dennoch Beachtung im Umfeld der
gesellschaftlichen Entwicklungen jener Jahre. Die Periode der zeitweiligen
relativen Stabilisierung des Kapitalismus ging zu Ende. Die Lebenslage des
Volkes verschlechterte sich, die Arbeitslosigkeit stieg. Massenaktionen wie der
Volksentscheid für Fürstenenteignung (1926), die Bewegung «Hände weg von
Sowjetrußland» (1927) und das Volksbegehren gegen den Panzerkreuzerbau (1928)
prägten die politische Szene. Reinhardts überzeugter Humanismus erwies sich als
ohnmächtig in den immer offener ausbrechenden Klassenkämpfen, ihm lag eine
theaterästhetische Konzeption fern, wie sie Erwin Piscator in jenen Jahren mit
seinem politischen Theater entwickelte, das sich im Interesse der kämpfenden
Arbeiter engagierte. Und dennoch, da war schon Programmatisches, wenn Reinhardt
1930 erklärte: «Ich glaube an die Unsterblichkeit des Theaters... Die
Schauspielkunst ist... Befreiung von der konventionellen Schauspielerei des Lebens, denn: nicht Verstellung ist die Aufgabe des
Schauspielers, sondern Enthüllung.» (4.74)
Reinhardt benannte die Aufgabe - derjenige, der sie ernst
nehmen und rückhaltlos lösen würde, war kurzzeitig (1925) sogar Spielleiter bei
ihm: Bertolt Brecht.
Anmerkungen:
4.69
Festschrift Fünfundzwanzig Jahre Schauspielschule des Deutschen Theaters zu Berlin, Berlin 1930, S. 27 Zurück zum
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4.70
Ebenda Zurück zum Text
4.71
Max Reinhardt, Schriften, Berlin 1974, S. 307 Zurück zum Text
4.72
Ebenda, S. 321 Zurück zum Text
4.73
Ebenda, S. 322 Zurück zum Text
4.74
Ebenda, S. 327
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