4. Alltag der Ausbildung
(1920-1933)
4.7 Gertrud
Eysoldt - die getreue Pädagogin
Berthold Held hatte es verstanden, immer wieder erfahrene
Schauspieler insbesondere des Deutschen Theaters für die pädagogische Arbeit zu
interessieren, 1927/28 neben Gertrud Eysoldt zum Beispiel Prof. Ferdinand
Gregori, Max Gülstorff, Mary Hahn, Heinz Hilpert, Friedrich Kayßler, Emil Lind
und Lothar Müthel. Als außerordentliche Dozenten wurden Julius Bab, Prof. Dr.
Max Herrmann, Prof. Dr. Georg Minde-Pouet, Prof. Dr. Julius Petersen und Dr.
Edwin Redslob gewonnen. Vom Umgang mit den außerordentlichen Dozenten versprach
sich Held eine theoretische Aufhellung schauspielmethodischer Fragen. Redslob
bat er zum Vortrag mit der Einladung: «Wie ich Ihnen bereits sagte, liegt mir
viel und gerade aus Ihrem Munde an einer Erörterung der Frage, ob es einen
Einfluß des Zeitstiles auf das persönliche Schaffen des Künstlers gibt und
geben darf, ob also der Künstler als Kind seiner Zeit unbewußt einem solchen
Zeitstil unterworfen ist, ob er sein Schaffen bewußt einem solchen unterordnen
darf, oder ob er nur intuitiv schaffend das gebiert, was
man den Zeitstil nennt.» (4.63)
Aber natürlich wurde der Unterricht an der Schule von den
Praktikern geprägt. Das Bild, das Zeitgenossen von der Schauspielerin Gertrud
Eysoldt (1870-1950) entwerfen, läßt Rückschlüsse zu über die Auffassung von
Schauspielkunst, die sie ihren Schülern vermittelte. «Je länger man die Eysoldt
kennt», schrieb Felix Hollaender, «desto zuverlässiger wird das Gefühl von der
Stärke und dem Reichtum ihrer Persönlichkeit. Dennoch ist es schwer, ihre Art
mit einer Formel zu umschreiben... Oft ist es bloß eine Bewegung, ein Ausdruck
ihres Gesichtes, durch den sie eine außergewöhnliche Wirkung erreicht... Man könnte aus dem Gesagten vielleicht schließen, sie sei
lediglich eine Schauspielerin des Instinkts. Mitnichten! Das Beste und
Wertvollste, das in jeder Kunst Unkontrollierbare, schafft sie aus der
Treffsicherheit einer starken Empfindung, aus jenem dunklen Drange und jener
Mühelosigkeit, die über das Gute als über das Selbstverständliche kein helles
Bewußtsein hat. Aber daneben besitzt sie einen Intellekt, der alles
durchdringt, der sie befähigt, ein Problem auf seine sachliche Fruchtbarkeit
hin zu prüfen und den geistigen Gehalt einer Dichtung bis auf den letzten Rest
auszuschöpfen.» (4.64)
Nicht minder differenziert beschreibt Willi Handl die
Künstlerin: «In Gertrud Eysoldt wird zuhöchst die Kraft des Intellekts
bewundert, der sich das Temperament fast völlig unterworfen hat. Ihre Kunst ist
wissend; ein heller und rastloser Geist schmeidigt und schmiegt sich und biegt
alles Material des Körpers und der Stimme, daß es dem erkennenden Willen in
jeder Äußerung beinahe blindlings und instinktlos gehorcht... So ist sie die
erlesene Darstellerin derjenigen Gebilde, in denen heutige Erkenntnis das
lebendige Leben kritisiert. Kritik am Leben ist auch der letzte Teil ihrer
scharfäugigen Kunst... Sie wertet, indem sie spielt... Im Naiven wie im
Perversen, im kindhaft Gebrechlichen wie im dämonisch Wilden gipfelt der hohe
Triumph ihrer Künste fast immer in der glücklichen Führung, die sich ihr
durchdringender Geist über ihre feinen Mittel und ihr klug nachgiebiges
Temperament errungen hat...» (4.65)
Das Spiel der Eysoldt - dies durch den wertenden Geist
und den erkennenden Willen geführte, sich schmiegende Temperament —
korrespondierte mit der Auffassung, die ihr Lehrerkollege Friedrich Kayßler
(1874-1945) formulierte: «Die nächste Zukunft, das nächste Ziel für das
Schaffen des Schauspielers ist nach meiner
festen Überzeugung etwas, was ich geistige Schauspielkunst nennen möchte... Ich
meine etwa folgendes: die Periode des Naturalismus - mit seinen gesunden wie
extremen Ansprüchen - hat uns in ihrem Resultat gelehrt, ein für allemal
unbedingte Wahrhaftigkeit und Natürlichkeit der Gefühlsäußerung als erstes von
der Schauspielkunst zu fordern. Die Periode der dekorativen Bestrebungen - mit
ihren gesunden Formen wie in ihren Übertreibungen - möge uns lehren, die
Schönheit der Form als zweite Forderung anzureihen. Mehr bedeutet sie nicht.
Diese dekorative Periode ist ja im Grunde nichts Neues, sie ist in den meisten
ihrer Äußerungen immer noch letzter Ausläufer des Naturalismus. Aus beiden
Erkenntnissen muß nach meiner festen Überzeugung als drittes die geistige Bühne
entstehen, welche die höhere Natürlichkeit fordert und sich vom Naturalismus
nunmehr endgültig befreit.» (4.66)
Gertrud
Eysoldt im Unterricht
Anmerkungen:
4.63 Brief v. Berthold Held an
Dr. Edwin Redslob v.
13.1.1926, HS-Archiv, Bl.
684
4.64 Felix
Hollaender, Die Eysoldt, in: Das Theater,
19. Januar 1905, Heft 7, S. 75
4.65 Willi Handl,
Die Künstler des Deutschen Theaters, in: Das Deutsche Theater in Berlin, hrsg. von Paul Legband, München 1909, S. 26
4.66
Friedrich Kayßler, Das Schaffen des
Schauspielers (1913), in: Wandlung und
Sinn, Potsdam 1943, S. 45f
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