9. Die Herausforderung Brecht (1962-1975)
Im
Etüdenseminar:
Jürgen Huth,
Uta Schorn, Wolfgang Macke, Rudolf Penka und seine Assistentin Veronika Drogi
9.5
Experiment mit dem Etüden-Seminar
Rudolf Penka hatte von seinem
Studienaufenthalt in der Sowjetunion, wo er am GITIS, der
größten der Moskauer Schauspielschulen, an der Schule des Künstlertheaters und an der Leningrader Theaterhochschule
hospitiert hatte, wesentliche Anregungen mitgebracht. Zunächst einmal
registrierte er an allen Schulen ein einheitliches Prinzip der Ausbildung:
«1. Jahr Seminar (Training und Etüde), 2. Jahr Szenenstudium, 3. Jahr
Szenenstudium (ein ganzer Akt), 4. Jahr Szenenstudium (ein ganzes Stück oder eine ganze Rolle)...» Zu diesem Prinzip gehört:
«Die Moskauer Schulen haben eine eigene Bühne, wo die Studenten der Schauspielabteilung, die Bühnenbildner
und Regisseure einem schulfremden Publikum die Ergebnisse ihrer Arbeit zur
Diskussion stellen. Es werden nicht nur Studio-Inszenierungen, also ganze
Stücke, gezeigt, sondern auch Ausschnitte, die von Zeit zu Zeit
wieder im Spielplan erscheinen.» (9.21)
Penkas besonderes Interesse hatte dem 1. Studienjahr
gegolten und der dort notwendigerweise zu leistenden schauspielerischen Grundausbildung.
Er hielt folgende Eindrücke fest: «Der Dozent soll den Studenten erziehen, in
verschiedenen Situationen logisch zu handeln. Konzentration, Lockerheit der
Muskeln, Reichhaltigkeit der Phantasie, richtiges Einschätzen und Behandeln der
Situation werden im Komplex entwickelt (Übungen). Man beginnt mit einfachen
Handlungen, aus denen die Schauspielkunst in der Hauptsache besteht. Nachdem
der Student die Logik des Handelns beherrscht, geht man zu Etüden (eine andere
Form der Übung) über, die sich allmählich komplizieren. Sie sollen dem
Studenten helfen, die besten Seiten seiner Individualität zu entwickeln (Gefühl
der Staatsbürgerpflicht, hohe Moral, kommunistische Einstellung zur Arbeit,
Gefühl der Ehrlichkeit und Wahrheit auf der Bühne)...
In der zweiten Hälfte des Jahres kommt man zur
Partner-Etüde, die beim Studenten insbesondere das aktive Reagieren auf den
Partner (eines der wichtigsten Elemente der Schauspielkunst) erziehen soll. Am
Schluß des 1. Jahres wird durch Sprechen eigenen Textes in der Etüde der
Übergang zur Szene vorbereitet. Der Student muß den Zusammenhang von Handlung
und Wort und die Zweckmäßigkeit der Sprache begreifen.» (9.22)
Inhalt und Form des Unterrichts im 1. Studienjahr, schreibt
Penka, «zielen besonders darauf, daß die Studenten zutiefst begreifen, daß man
in der Schauspielkunst nur etwas zusammen, im Kollektiv, schaffen kann.» (9.23)
Dergestalt mit den neuesten Erfahrungen und Erkenntnissen
sowjetischer Theaterschulen ausgerüstet, ging Rudolf Penka in das
Etüden-Seminar zu seinen Studenten. Er suchte nach einer Ausbildungsmethode,
die die Anregungen Stanislawskis in sich aufnahm und die zugleich den deutschen
Erfordernissen entsprach. Das hieß, sich ganz aktuell dem Theater-Shakespeare
unseres Jahrhunderts, Bertolt Brecht, zuzuwenden. Rudolf Penka tat dies nicht
vordergründig, aber weit beherzter, als es bislang geschehen war.
Rudolf Penka im Etüdenseminar mit
Uta Schorn
Immerhin hatten schon seit der Direktion Glaser
gelegentlich Regisseure vom Berliner Ensemble wie Manfred Wekwerth und Lothar
Bellag im Unterricht an Szenen von Brecht gearbeitet. 1964 initiierte Penka
eine Studio-Inszenierung von Brechts bislang in Berlin noch nicht gespieltem
Stück «Mann ist Mann» mit Studenten des 3. Studienjahres: Birgit Arnold, Monika
Berndt, Sybille Hahn, Carl Heinz Choynski, Tim Hoffmann, Klaus Manchen,
Alexander Stillmark, Alexander Wikarski.
«Die Aufführung», schrieb Rainer Kerndl, «ist
gewissermaßen eine Abschlußarbeit, die die Schauspielschüler zur Diskussion
stellen. Sie können mit ihr durchaus bestehen. Daß ihnen Mitglieder des
Berliner Ensembles dabei geholfen haben, ist nicht nur legitim, sondern
vorbildlich: Die Ausbildung fürs Theater kann die Praxis des Theaters nicht entbehren.» (9.24)
Studioinszenierung „Mann ist Mann“
von Bertolt Brecht (1964)
Die Öffentlichkeit registrierte aufmerksam: «Tatsächlich
tritt hier eine ganz neue Generation von Schauspielern die Bühnenlaufbahn an.
Alle Darsteller hatten wie Choynski einen Beruf erlernt, bevor sie auf die
Schauspielschule gingen... Es ist sicher kein Zufall, daß sie ihre Begabung an
einem Brecht-Stück zeigen wollten und konnten, verlangt doch das Theater
Brechts vom Schauspieler nicht nur artistisches Können, sondern auch politische
Bewußtheit. Daß die jungen Schauspieler das Bedürfnis haben, beides zu zeigen,
Kunst und Wissen, bewußte Kunst, ist ein überzeugender Beweis für die
umwandelnde Kraft des Sozialismus.“ (9.25)
Mit dieser Aufführung waren neue Ausbildungs-Ergebnisse
sichtbar geworden, und Rudolf Penka vermochte anhand des Erreichten
Rückschlüsse für das Etüden-Seminar zu ziehen. Aufschlußreich ist ein
Interview, das er 1964 dem «Sonntag» gab. Auf die Frage, ob sich die Schule nun
immer mehr auf Brecht orientiere, entgegnete er: «Wir versuchen, allen
Forderungen unserer sozialistischen Gesellschaft gerecht zu werden. Das ist nur
möglich, wenn wir in unserer Arbeit nicht eng sind, wenn wir die Erfahrungen
Stanislawskis und seiner Schüler ebenso schöpferisch auswerten wie die der reichen
deutschen Tradition, und dabei gehen wir selbstverständlich an Brecht nicht
vorbei. Diese schöpferische Aus- und Verwertung ist ein langer, komplizierter
Prozeß...» (9.26)
Damit benannte er zugleich ein wichtiges Ausbildungsprinzip
der Schule: Sie hat sich — zumindest seit 1960 - stets offen gehalten für
Anregungen von außerhalb, sie war und ist kein isoliertes Treibhaus, sondern
ein Laboratorium, das über viele Verbindungen eng mit der hauptstädtischen
Theaterpraxis verbunden ist.
So war es damals folgerichtig, daß diese erste gründliche
Begegnung mit einem Werk Brechts an der Schule neue Überlegungen auslöste.
Penka: «Die Regie-Arbeit an "Mann ist Mann" hat deutlich gemacht, daß
wir die Ausbildung entschieden darauf orientieren müssen, bei den Studenten
weniger die Fähigkeit zur Produktion von Gefühlen und Leidenschaften zu
entwickeln, als vielmehr die Fähigkeit, in gesellschaftlich konkreten
Situationen konkret zu handeln. Und das ist ohne... wissenschaftliches Weltbild
nicht möglich...» (9.27)
Wie vorsichtig und vorerst rein empirisch die Problematik
angegangen wurde, zeigt Rudolf Penkas Hinweis: «Soviel kann vielleicht gesagt
werden, daß wir im kommenden Jahr zunächst in Form eines Experiments das
sogenannte Grund- bzw. Etüdenseminar wesentlich weiterzuentwickeln hoffen. Es
geht in etwa darum, die schauspielerischen Fähigkeiten der Studenten durch das
systematische Training konkreter Beziehungen zur materiellen Wirklichkeit zu
entwickeln.» (9.28)
Mit anderen Worten: Es galt, vom Dialektiker Brecht zu
lernen, nämlich die Anwendung von Erkenntnissen des dialektischen Materialismus
auf die Prozesse des schauspielerischen Schaffens, speziell in der Ausbildung
von Schauspielern, möglich geworden durch antikapitalistische, im Keim
sozialistische gesellschaftliche Verhältnisse. Denn: Welch groteske Antwort
auch immer die Geschichte mittlerweile gegeben hat – in historischer Zeit, in
der trotz widriger Umstände scheinbar erfolgreich versucht wurde, eine völlig neue Gesellschaft in Kenntnis und
unter Beachtung objektiver Gesetzmäßigkeiten aufzubauen, konnte nicht
ausbleiben, auch in der Ausbildung von Schauspielern nach Gesetzmäßigkeiten zu
fragen.
Die zielstrebige schauspielpädagogische Arbeit von Rudolf
Penka wurde 1966 mit der Verleihung des Professorentitels gewürdigt.
Anmerkungen:
9.21
Rudolf Penka, Schauspieler-Ausbildung in der Sowjetunion, Theater der Zeit, Berlin 1961,
H. 5, S. 37 Zurück
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9.22 Ebenda
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9.23 Ebenda
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9.24
«Paul Dessau hat eine funktionell lustige Musik für die Aufführung
geschrieben, die vom Orchester des Berliner
Ensembles dargeboten wird. Hans Brosch
besorgte eine ebenso knappe wie zweckmäßige und detailgerechte Ausstattung. Vor allem haben die jungen Darsteller wohl aus der Arbeit mit der
Regisseurin Uta Birnbaum Gewinn
gezogen.» Rainer Kerndl, Prüfung bestanden, Neues Deutschland, Berlin 17.5.1964 Zurück zum Text
9.25 Ernst Schumacher, Mann für Mann, Berliner Zeitung, 24.5.1964 Zurück
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9.26
Leider nicht so klar wie in der Wirtschaft, Gespräch
v. G. Ebert m. R. Penka, Sonntag, Berlin, Nr.
32/1964 Zurück
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9.27 Ebenda
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9.28 Ebenda
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