10. Organisieren von Bewährungen (1975-1981)

 

 

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10.7  «Blaue Pferde auf rotem Gras»

Im Frühjahr 1980 stand der Direktor, Hans-Peter Minetti, vor einer schwerwiegenden Entscheidung. Manche Kollegen rieten ihm ab, andere plädierten für den Versuch. Das Berliner Ensemble plante die Inszenierung des Schauspiels «Blaue Pferde auf rotem Gras» von Michael Schatrow, ein Stück um Lenin, über einen Tag in seinem Leben, in dem eine Gruppe Komsomolzen auftritt. Diese jungen Sowjetbürger sollten von Schauspielstudenten gespielt werden, und zwar möglichst vom 1. Studienjahr, also von Schülern, die mindestens noch zwei Jahre in Berlin studieren, damit so bald nicht umbesetzt werden musste. Bei aller Entschlossenheit des Direktors, den Studenten Bewährungen zu organisieren, hier war das Risiko wirklich groß. Konnte ein Studienjahr, das gerade erst begonnen hatte, das Handwerk zu erlernen, schon derart ins Treffen geführt werden?

Der Versuch wurde gewagt. Alle Beteiligten waren sich klar darüber, dass das Experiment nur mit außergewöhnlichem Einsatz gelingen konnte. In besonders intensiven Proben unter Leitung der erfahrenen Pädagogin Gertrud Elisabeth Zillmer und mit zusätzlichem Unterricht in Sprecherziehung (Hubert Scholz) wurden die Studenten für die eigentlichen Proben vorbereitet. Die Inszenierung besorgte Christoph Schroth. Auch er arbeitete mit den Studenten besonders intensiv. Als die Aufführung dann bei Publikum und Presse große Anerkennung fand und das Spiel der Studenten (zur Premiere am 3. Oktober 1980 inzwischen im 2. Studienjahr) ausdrücklich gelobt wurde, war die Genugtuung an der Schule verständlich. Die Risikofreudigkeit hatte sich gelohnt, wenngleich letztlich nur dadurch, dass die Studenten die Herausforderung voll angenommen hatten.

 

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Joachim Lätsch

 

Im Urteil der Presse liest sich das so: Christoph Funke: «Es ist ein Theaterabend der Jugend — Studenten des ersten Studienjahres der Schauspielschule Berlin füllen die Bühne mit Leben. Ihr "Agitwagen Nr. 1" wird zum Zentrum erregter Debatten über die proletarische Kultur oder die freie Liebe. Sie bauen Versammlungen mit einer Lust am Reden, an der Auseinandersetzung, am naiven Spiel..., daß der heiße Wirbel eines revolutionären Aufbruchs spürbar wird, aber auch der Spaß, als Jugend von heute diese Abenteuer aus der Kindheit der Revolution verlebendigen zu dürfen.» (10.33)

Rainer Kerndl: «Schroth hat sich vierundzwanzig Berliner Schauspielschüler geholt, die als Gruppen (in ihrer fast choreographischen Führung Elemente der Agitpropbewegung früher Zeiten benutzend) wie in kleinen Rollen jugendlichen Elan mit darstellerischer Intensität verbinden. Ihre Mitwirkung verstärkt den drängenden, engagierten, zupackenden Impetus der Aufführung und desgleichen ihre ästhetische Geschlossenheit.» (10.34)

Rolf Dieter Eichler: «Da bringen Studenten der Schauspielschule Berlin Stimmung ins Theater, wenn sie die Debatten so mancher Jugendversammlung von 1920 vorspielen, mit anfeuernden oder protestierenden Zwischenrufen von den Rängen.» (10.35)

Wolfgang Gersch: «Rund zwei Dutzend Studenten des ersten Studienjahres der Berliner Schauspielschule machen Enthusiasmus, Unerfahrenheit zur bewegenden, heiteren Erfahrung.» (10.36)

Günther Bellmann: «Berliner Schauspielschüler bewähren sich - und werden hoffentlich nie vergessen, wie leidenschaftlich beteiligt sie hier Theater spielen.» (10.37)

Zu den so erfolgreichen Studenten gehörten u.a. Kirsten Block (als Absolventin an das Berliner Ensemble), Jens-Uwe Bogadtke (theater im palast), Nicole Haase (Maxim Gorki Theater), Michael Kind (Berliner Ensemble), Ralf Kober (Berliner Ensemble), Joachim Nimtz (Staatsschauspiel Dresden), Thomas Rühmann (Mecklenburgisches Staatstheater Schwerin) und Manuel Soubeyrand (Berliner Ensemble).

Der erhoffte, aber kaum in solchem Ausmaß erwartete Erfolg führte dazu, dass die Aufführung noch nicht abgesetzt und die Gruppe der Komsomolzen inzwischen von drei «Generationen» von Studenten gespielt wurde. Für diese nachfolgenden Studienjahre war solche Übernahme nicht leicht. Die Studenten hatten die Aufregungen und Kämpfe des Jahres 1980 nicht mitgemacht, sie hatten anders motiviert werden müssen. Einmal, es sei nicht verschwiegen, musste der Intendant des Hauses einen bitterbösen Brief schreiben, weil Studenten aus Nachlässigkeit ihren Auftritt verpasst hatten. Letztlich aber bestätigte der anhaltende Erfolg der Aufführung die Richtigkeit der Entscheidung, Studenten schon so früh in Bewährungen zu führen.

 

 

Anmerkungen:

 

 

10.33 Christoph Funke, Ein Tag im Leben Lenins, Der Morgen, Berlin 6.10.1980   Zurück zum Text

10.34  Rainer Kerndl, Ein erregender szenischer Disput über revolutionäres Handeln, Neues Deutschland 6.10.1980   Zurück zum Text

10.35 Rolf-Dieter Eichler, Lenins Gründe für die Rede über das Leben, National-Zeitung, Berlin 8.10.1980   Zurück zum Text

10.36 Wolfgang Gersch, Gültige Dialoge über unsere Sache, Tribüne, Berlin 16.10.1980   Zurück zum Text

10.37 Günther Bellmann, Die Revolution auf dem Marsch, BZ am Abend 8.10.1980   Zurück zum Text

 

 

 

 

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