1. Die Gründung (1905)

 

 

 

 

1.3  Für und Wider die Ausbildung

 

Im Jahr der Gründung der Schauspielschule des Deutschen Theaters gab es in Berlin bereits zwei durchaus angesehene Ausbildungsstätten, nämlich die Reichersche Hochschule für dramatische Kunst, insbesondere für Opernsänger, und die Marie-Seebach-Schule (1.41) des Königlichen Schauspielhauses. Zu deren Kuratorium gehörten Se. Excellenz General-Intendant von Hülsen, Wilhelmine Seebach, Max Grube und Adalbert Matkowsky. Die Aufnahme erfolgte nur, «wenn die Prüfung hervorragendes Talent vermuten läßt.» (1.42)

Es wurde unentgeltlich Unterricht in den „Anfangsgründen der Schauspielkunst“ erteilt, verbunden mit praktischer Betätigung auf der Bühne. Die Schule stand in der Tradition des Hoftheaters. Adalbert Matkowsky, einer der letzten Komödianten großen Stils, und Max Grube, ab 1909 Direktor des Meininger Hoftheaters, vermittelten die hehre, tönende Sprechkunst der feudalen Repräsentationstheater, «die nichts mehr hatten, was sie repräsentieren konnten.» (1.43) Wie auch immer, mit diesen Schulen war noch vor Reinhardt ein Zeichen gesetzt worden im lange währenden Kampf um die Ausbildung des schauspielerischen Nachwuchses.

Die Bemühungen gehen in Deutschland zurück auf Lessing, der am 24. Oktober 1776 in einem Brief an J.H.F. Müller eine «Pflanzschule» für Schauspieler forderte, an der durch eifriges Studium alle Empfindungen, Leidenschaften, Neigungen und Fähigkeiten in frühester Jugend ausgebildet werden können. Den unschätzbaren Nutzen eines solchen Instituts sah Lessing darin, daß es sowohl der moralischen als auch der spezifisch schauspielerischen Bildung zu dienen habe, wobei er die Erziehung der Persönlichkeit und die Vermittlung des Handwerks als eine notwendige Einheit signalisierte. Aber noch war der Weg weit bis zur Gründung einer Theaterschule, an der Lessings Forderungen beherzigt wurden.

Die Lage derer, die sich dem Schauspielerberuf zuwenden wollten, schildert Joseph Edlen von Kurzbek 1780 mit folgenden Worten: «Unsere Erzieher tun oft wenig mehr, als daß sie uns den Rock von dem Fürsten oder Schuster anziehen, den wir auf der Bühne vorstellen sollen; den Überrest überlassen sie unserem fürstlichen oder schustrigen Gefühle! Was können da für große Schauspieler gebildet werden?» (1.44) Die Erzieher, das waren die Theaterprinzipale, die junge Talente von der Straße weg auf die Bühne schicken konnten. Ein solcher Anfänger war im Grunde auf sich selbst angewiesen. Daher rät August Wilhelm Iffland 1808: «Wem es Ernst um die Sache ist, der wird mit Leben und Kraft, aber doch mit Bescheidenheit, beginnen. Er wird streben und nicht aufhören, so viel wissenschaftliche Kenntnisse als möglich zu sammeln, er wird keine Arbeit, keine Tätigkeit aussetzen, um seinen Geschmack zu bilden. Er wird Dichter und Geschichte studieren; Musik, Gesang, alle Denkmale der bildenden Künste werden die Flamme für die Kunst in ihm erhöhen und veredlen...» (1.45)

 

 

devrient

Devrient

 

Als ein leidenschaftlicher Verfechter solider Ausbildung exponierte sich der Schauspieler, Regisseur, Theaterleiter, Bühnenreformer und Theaterhistoriker Eduard Devrient (1801 - 1877). 1839 studierte er in Paris am Conservatoire den Unterricht der Schauspieleleven. Am 11. April des gleichen Jahres schrieb er resümierend in einem Brief: «Ich halte es... für notwendig, daß in einer Schule nicht die Trefflichkeit des einen oder ändern Lehrers allein, sondern die Zweckmäßigkeit der allgemeinen Methode für die freiere Entwicklung der Zöglinge Bürgschaft gewähre.» (1.46) Derart überzeugt von der Zweckmäßigkeit und Notwendigkeit einer «allgemeinen Methode» der Ausbildung zu sprechen, war 1839 eine der Zeit weit vorauseilende mutige Tat.

Auch Devrient machte aufmerksam auf den Zusammenhang von Persönlichkeit und Handwerk. Er schrieb: «Man wird eine, wenn auch nur allgemein wissenschaftliche Bildung für unerläßlich erachten, um vor den gebildetesten Kreisen der Nation große Dichter lebendig interpretieren, und das Höchste leisten zu können, was von einem Menschen gefordert werden kann: — den Menschen in seiner vollständigen Entwicklung darzustellen. Man wird die eigentlich technische Ausbildung gründlicher und allmählicher vorbereiten; man wird es dem Zöglinge fühlbar machen, daß von jeder Kunst zunächst das Handwerk gelernt werden müsse, bevor man an das eigentlich künstlerische Schaffen gehen dürfe. Man wird zuerst lehren, den Körper mit Bewußtsein und schön zu bewegen, bevor man ihm erlaubt, sich dem Ausdrucke von Seelenstimmungen zu leihen; man wird zuerst eine ebenmäßige Ausbildung der Sprache, eine ungezwungene und natürlich ausdrucksvolle Prosa verlangen, bevor man den Eleven zuläßt, den erhabenen Sturm der Leidenschaften in Versen auszudrücken.» (1.47) Ein Jahr später, im Oktober 1840, veröffentlichte Devrient seine Schrift «Über Theaterschule», versehen mit einer Widmung für Alexander von Humboldt, der ihn offenbar zu dieser Arbeit angeregt hatte. In dieser von den Hoffnungen des liberalen Bürgertums im Vormärz bestimmten Abhandlung, aufgeteilt in die Kapitel «Notwendigkeit der Schule» und «Errichtung der Schule», legt Devrient außerordentlich fundiert dar, wie er sich Erziehung und Ausbildung vorstellt.

Zunächst würdigt er die Residenzen, die über reich ausgestattete Bühnen verfügen, und die Städte, die der dramatischen Kunst prächtige Tempel erbauen. Dann charakterisiert er den beklagenswerten Zustand hinsichtlich des Nachwuchses für diese Theater. In Deutschland werde von der Höhe der Lehrstühle für die spezifischen Wissenschaften bis hinab zur ABC-Schule des ärmsten Dorfes alles angewendet, um ein jedes Glied der Gesellschaft mit gemäßer Bildung auszurüsten. «Selbst den Gewerben, welche schon im allgemeinen Bedürfnisse und der Konkurrenz so mächtige Triebfedern zum Fortschritte besitzen, ist durch liberale Institute eine wissenschaftliche Begründung, ein Recht

zum Eintritte in die Kreise höherer Bildung gegeben worden. In trefflichen Kunstschulen werden Architektur, Malerei, Skulptur, selbst Musik mit Sorgfalt und edlem Geiste gepflegt und — inmitten dieser emsigen Sorgfalt für alle, alle Stände, ist es der Schauspieler allein, der wild aufwachsen muß.» (1.48) Der gängigen Behauptung, die Meister der Bühne seien sämtlich ohne Schule entstanden, was beweise, daß keine nötig sei, setzt Devrient entgegen: «Keine Kunstschule der Welt hat jemals unternommen vollendete Meister zu stellen, oder gar durch ihren Unterricht die individuelle Schöpfungskraft überflüssig zu machen; warum will man diese Torheiten der Theaterschule unterlegen? Sie kann freilich weder Talent noch Genie erzeugen, aber sie kann allerdings, und besser, zuverlässiger als die Bühne selbst, die Anlagen wecken und ausbilden. Und wenn man auch zugeben wollte, das Genie bedürfe keiner Erziehung, so bliebe deshalb die Notwendigkeit der Schule immer noch bestehen; denn keine Zeit bringt so viele Genies hervor, als das Theater gute Schauspieler braucht, die Bildung muß also ergänzen, wo die natürlichen Gaben nicht ausreichen. Für das Genie errichtet man überhaupt nirgend Schulen, sondern für die Mehrzahl der mäßiger Begabten, und gerade solcher bedarf das Theater sehr viele... Die Theaterschule könnte durch ihre Anweisung den Geringbegabten in Übereinstimmung mit dem Höchstbegabten setzen, sie könnte die Unanstößigkeit, Reinheit und Harmonie der Formen erzeugen, welche an und für sich schon einen künstlerischen Eindruck hervorbringen und deren Mangel eben an der heutigen Schauspielkunst unaufhörlich gerügt wird... und wenn die Schule wirklich nur das Falsche und Verkehrte von der Bühne verschwinden machte, so verdiente sie um diese untergeordnete Wirksamkeit schon fördernde Anerkennung. Das Theater bedarf der vollkommensten Vergesellschaftung übereinstimmend gebildeter Kräfte. Der Einzelne vermag hier nur Einzelnes, niemals ein Ganzes zu leisten, er bleibt von seinen Mitkünstlern abhängig; so ist es nicht in andern Künsten. Die Malerei, die Bildhauerkunst, denen man von je her Schulen gewährt hat, können in Abgeschlossenheit und Einsamkeit geübt werden, jeder einzelne Künstler begreift da in seinem Schaffen die ganze Kunst; die Schauspieler dagegen können nur miteinander ein Kunstwerk hervorbringen, sie sollten also auch miteinander, aneinander und füreinander gebildet werden.» (1.49)

Nach solch leidenschaftlichem Plädoyer kommt der Autor auf Schwierigkeiten zu sprechen, Theaterschulen gut und dauerhaft zu errichten. Er nennt Stuttgart als ein Beispiel, wo «eine Schule von mehr umfassender Organisation bestanden» (1.50) habe, wo aber die Mittel nicht ausgereicht hätten. Und er fährt fort: «Aus derselben Ursache der ungenügenden Verfassung gedeihen auch die mehrfach versuchten Privatanstalten nicht. Wenn eine Theaterschule nicht auf umfassende, allseitige und systematisch geregelte Bildung ausgeht, wird sie niemals nützen können, tut sie das aber, so ist ihre Einrichtung und Erhaltung zu kostspielig, als daß sie aus gewöhnlichen Privatmitteln bestritten werden könnte...»  (1.51)

Ausbildung von Schauspielern kann kein Geschäft sein. Eine Schule «etwa gar zum Erwerb benutzen wollen, wird immer mit grausamer Täuschung für Unternehmer und Schüler enden.» (1.52) Max Reinhardt, das muß hier gesagt werden, hat seine Schule nicht zum Erwerb gegründet. Aber die mit der Existenz der Schule verbundenen finanziellen Sorgen haben die jeweiligen Direktoren ständig belastet.

Die Förderung des schauspielerischen Nachwuchses nicht allein privatem Geldbeutel zu überlassen, war in der Öffentlichkeit durchaus schon debattiert worden. 1861 hatte Hippolyt von Bothmer gefordert: «Soll die Begründung einer Theaterschule dem hohen Zwecke entsprechen,... so muß dieselbe, wie jede andere öffentliche Unterrichtsanstalt, als Zweig des Volks- und Staatsbildungswesens betrachtet werden, weil sie nur unter dem Schutz des Kultusministeriums lebensfähig und haltbar ist...» (1.53) Reinhardts Bemühungen um staatliche Unterstützung fanden im Preußischen Ministerium der geistlichen, Unterrichts- und Medizinal-Angelegenheiten wenig Gegenliebe. Zumindest, gab das Berliner Polizei-Präsidium auf Anfragen zu bedenken, könne dann ja wohl auch die Marie-Seebach-Schule entsprechende Mittel erwarten.

 

 

 

Anmerkungen:

 

 

 

1.41    Marie Seebach (1834-1897), Schauspielerin in Hamburg, Wien, München, Hannover, Berlin, seit 1887 am Königl. Schauspielhaus, stiftete 1893 ein Heim für hilfsbedürftige Bühnenkünstler, 1895 in Weimar als «Marie Seebach-Stift» eingeweiht und noch heute existierend. Die Schule ihres Namens war ebenfalls eine Stiftung.

 

1.42    Neuer Theater-Almanach, Berlin 1905, S.284   Zurück zum Text

 

1.43   Herbert Jhering, Von Reinhardt bis Brecht, l. Band, Berlin 1958, S. 88; vergl. auch Alexander Granach, Da geht ein Mensch, München 1982, S. 230: «Im Königl. Schauspielhaus... waren mehr Schauspielbeamte. Alle gingen wie auf Kothurnen und sprachen schön, zu schön, zu getragen und machten Gesten, wie nie ein Mensch sie machen würde... Aber genau so, wie die Schauspieler im Königl. Schauspielhaus zu unnatürlich waren, waren die im Lessingtheater zu natürlich. Man hustete, spuckte, kratzte sich, machte Riesenpausen - eine Vorstellung sah da immer aus, als ob man zufällig in ein fremdes Haus hineingekommen und Zeuge peinlichster privater Auseinandersetzungen wäre... Reinhardts Theater war zwischen diesen beiden. Es war natürlich und doch nicht alltäglich, es war feierlich und doch ohne falsches Pathos, es war Theater, — romantisches, poetisches Theater.»

 

1.44     Joseph Edlen von Kurzbek, Von der Schauspielkunst, Wien 1780, S. 8

 

1.45    August Wilhelm Iffland, Almanach fürs Theater, Berlin 1808, S. 12   Zurück zum Text

 

1.46     Eduard Devrient, Dramatische und dramaturgische Schriften, Leipzig 1846, S. 191    Zurück zum Text

 

1.47     Ebenda, S. 191

 

1.48     Ebenda, S. 327   Zurück zum Text

 

1.49    Ebenda, S. 329    Zurück zum Text

 

1.50    Ebenda, S. 336

 

1.51   Ebenda, S. 336

 

1.52    Ebenda, S. 337

 

1.53     Hippolyt von Bothmer, Deutsche Theaterschulen, deren Wert und Notwendigkeit, Braunschweig 1861, S. 11

 

 

 

 

 

 

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