2. Der schwere Anfang
(1905-1914)
Der erste Jahrgang
2.1 Auftakt mit zu vielen Schülern
Max Reinhardts zweifellos außerordentliches Arbeitspensum erklärt,
weshalb er sich seiner Schule nicht so widmete, wie er das ursprünglich
beabsichtigte. Ein Vergleich mit Stanislawski zeigt, dass Neigungen auch anders
verteilt sein können. Der Mitbegründer des Moskauer Künstlertheaters
beeinflusste ganz entscheidend Schauspielpädagogik und -methodik. Reinhardts
Interesse galt der ständigen Erweiterung seines Theaterunternehmens. Seine
Sehnsucht war, «zwei Bühnen nebeneinander» zu haben, «eine große für die
Klassiker und eine kleinere intime, für die Kammerkunst der modernen Dichter.
Schon damit die Schauspieler in keinem Stil erstarren und sich an beiden
Darstellungsarten abwechselnd erproben können. Und weil es in manchen Fällen
notwendig sein wird, moderne Dichter wie Klassiker und gewisse klassische Werke mit der ganzen Intimität moderner
Seelenkunst zu spielen.» (2.1) Am
18. November 1906 eröffnete er -
selbst Regie führend - mit Ibsens Schauspiel «Gespenster» die Kammerspiele
neben dem Deutschen Theater.
Aber das reichte ihm nicht. Er plante «eine ganz große Bühne für
eine große Kunst monumentaler Wirkungen, ein Festspielhaus, vom Alltag
losgelöst, ein Haus des Lichts und der Weihe, im Geiste der Griechen, aber nicht bloß für die griechischen Werke,
sondern für die große Kunst aller Zeiten bestimmt, in der Form des
Amphitheaters, ohne Vorhang, ohne Kulissen, vielleicht sogar ohne Dekorationen,
und in der Mitte, ganz auf die reine Wirkung der Persönlichkeit, ganz aufs Wort
gestellt, den Schauspieler, mitten im Publikum, und das Publikum selbst, Volk
geworden, mit hineingerissen, selbst ein Teil der Handlung...» (2.2)
Und am 7. November 1910 hatte er zum
ersten Mal im Zirkus Schumann Premiere. Er zeigte «König Ödipus» von Sophokles.
(2.3)
Derlei offenkundige theatralische Expansion war primär durchaus
kein «Geschäftsdrang», sondern der Versuch des Künstlers Reinhardt, Entwicklung
von Theater anzuregen. Es kam ihm «nicht allein darauf an, die Bühne in den
Zuschauerraum vorzurücken und die Kulissen gegenständlich zu machen, sondern
auch die ganze überlebte Tradition, dass Bühne und Zuschauerraum zwei voneinander streng
getrennte Reiche sind, muß ausgemerzt werden. Jede Möglichkeit, den
Schauspieler in innige Berührung mit seinem Auditorium zu bringen, muß
wahrgenommen werden. Der Zuschauer darf nicht den Eindruck haben, daß er bloß
ein unbeteiligter Außenstehender sei, sondern man muß ihm die Suggestion
aufoktroyieren, daß er in innigem Zusammenhang mit dem, was auf der Bühne vorgeht, steht, und daß auch er seinen Teil an der
Entwicklung der Vorgänge hat.» (2.4)
Zwar wurden diese Überlegungen erst 1928 notiert, aber Reinhardts gesamte Theaterstrategie seit 1905
spricht dafür, dass er von Anbeginn an ihrer Realisierung gearbeitet hat.
Natürlich brauchte er für solch ein publikumsnahes und -intensives Theater
einen neuen Schauspieler- und also die eigene Schule. Bedauerlich andererseits,
dass er gerade wegen seiner weitreichenden Intentionen die Schule immer mehr
aus den Augen verlor.
Gertrud Eysoldt im Kreise ihrer Schüler
Auch Eduard von Winterstein bestätigt, dass Reinhardt nicht die
Zeit gehabt habe, sich aktiv an der Arbeit seiner Schule zu beteiligen. Aber er
habe es verstanden, einen großen Kreis der besten Lehrkräfte zu vereinen. «Es
sind stolze Namen, die wir im Verzeichnis des Lehrpersonals finden.» (2.5) Er nennt Alexander Strakosch, einen Rezitator von großer
Beliebtheit, den schon Heinrich Laube zum
Winterstein
"Vortragsmeister" an seinem Wiener Burgtheater gemacht
hatte, und den Rezitator Prof. Emil Milan, Lektor für Vortragskunst an der
Berliner Universität. Von den Schauspielern arbeiteten als Lehrerinnen und
Lehrer Gertrud Eysoldt, Hedwig Wangel, Eduard von Winterstein, Albert Steinrück
und Berthold Held.
Strakosch Milan Steinrück
In Wintersteins Aufzählung fehlt der Name des
ersten Direktors, Efraim Frisch, (2.6) der die Schule von
1905 bis 1907 leitete, an sich aber im Dramaturgischen Büro des Deutschen
Theaters beschäftigt war, neben Felix Hollaender und Arthur Kahane. Hollaender
hatte vor allem die Verbindung zur Berliner Presse zu halten, führte aber auch
Regie. Kahane war der Dramaturg Reinhardts. Unter Efraim Frisch waren 1905
sechzig zahlende Schüler (2.7) aufgenommen worden, vor allem
Schülerinnen. Vielleicht war dies geschehen, weil ihm Reinhardt völlig freie
Hand gelassen hatte. Vielleicht aber auch hatten zu solch großer Zahl die relativ
günstigen Schulräume verleitet; sie befanden sich im Parterre des Palais
Wesendonck, In den Zelten 21 a, das Reinhardt damals selbst bewohnte. «Wir
hatten einen schönen großen Saal mit Podium, der sich für kleine Vorstellungen
eignete, und noch mehrere für Lehrzwecke geeignete Zimmer.» (2.8)
Wahrscheinlich ist, dass zur günstigen Bilanzierung des von vornherein eigenen
Haushalts der Schule erst einmal möglichst viele zahlungskräftige Interessenten
aufgenommen wurden. Die Schüler hatten einen Vertrag zu unterschreiben, in dem
es hieß, dass sie und Vater,
Ausbildungsvertrag
Mutter
oder Vormund sich allen im Prospekt der Schule festgesetzten Bedingungen
unterwerfen und sich verpflichten, die Honorare jeweils bis 15. September, 1.
Dezember, 15. Februar und 1. April in entsprechenden Raten zu zahlen. Der
Vertrag musste auch von Vater, Mutter oder Vormund unterschrieben werden. Das Honorar,
das heißt das zu zahlende Schulgeld, betrug 600 Mark
jährlich. (2.9)
Strakosch
im Kreise seiner Schüler
Mit
der großen Schülerzahl waren unlösbare Probleme unfreiwillig vorprogrammiert.
Schon ein Jahr nach ihrer Gründung richtete ein Ernst Bergmann - kurzzeitig
selbst Schüler - einen heftigen Angriff gegen die Schule, vorgetragen in einer
Broschüre, die sich durch ihren Titel «Der Fall Reinhardt oder Der
künstlerische Bankerott des Deutschen Theaters zu Berlin» selbst
disqualifizierte. Bankrott — das war angesichts
der allgemein anerkannten Erfolge
Reinhardts einfach unwahr. Der das offen aussprach, der Schriftsteller
Siegfried Jacobsohn, Herausgeber der «Schaubühne», unterlag allerdings in einem
Prozeß wegen Beleidigung, den Bergmann gegen ihn angestrengt hatte, und wurde
zu 150 Mark Geldstrafe bzw. 15 Tagen Haft verurteilt. (2.10)
Nach
Bergmanns Darlegung lebten 80 «dramatische Embryos» in dem Wahne, erstklassige
Talente zu sein. Schon um Weihnachten herum habe allgemeine Unzufriedenheit
geherrscht. Der Schulbesuch sei immer unregelmäßiger geworden, in den
Unterrichtsstunden habe man Unfug getrieben. «Man verbot dann das Duzen und
Cigarettenrauchen in den Räumen der Anstalt und gab sich der Hoffnung hin, die
Schule werde nunmehr einen neuen Aufschwung nehmen. Das hat sich aber bis jetzt noch nicht getan. Im Gegenteil. Die Zahl der Schüler
nimmt von Woche zu Woche ab.» (2.11)
Zu
dieser Einschätzung heißt es in einem Polizeibericht an den preußischen Herrn
Minister der geistl. pp. Angelegenheiten, erstattet von Oberregierungsrat von
Glasenapp, ausgehend vom oben genannten
Beleidigungsprozeß: Das Gericht nimmt «als erwiesen an, daß die
glänzenden Pospekte, unter denen die Schule eröffnet wurde, nicht innegehalten
worden sind, eine Reihe hervorragender literarischer Persönlichkeiten, deren
Vorträge angekündigt worden waren, überhaupt nicht las, insbesondere auch der
Direktor Reinhardt nur selten erschien sowie daß mit Rücksicht hierauf und die
Höhe des Honorars eine starke Unzufriedenheit unter den Schülern entstand. Das
Gericht nimmt ferner an, daß die Broschüre nicht aus unlauteren Motiven
entstanden, sondern "einem ehrlichen, redlichen Willen entsprungen
ist". Diese Ausführungen des Urteils... zeigen, daß die Schule damals
nicht in zuverlässiger und solider Art geführt wurde.» (2.12)
Ernst Bergmann hat auch gegen die «ungehörige Verwendung» der
Schüler auf der Reinhardtschen Bühne protestiert, «für die die Schüler
natürlich nichts erhalten, die aber ihre Selbstüberhebung ins Ungemessene
steigert.» (2.13) Solch Einsatz hatte
indessen auch positive Seiten. Das zeigt eine Bemerkung von Tilly Wedekind über
die Uraufführung von «Frühlings Erwachen» am 20. November 1906 in den
Kammerspielen: «Wedekind selbst konnte sich eine Aufführung nicht vorstellen,
bei der die Knabenrollen von ausgewachsenen Schauspielern gespielt würden. Er
schlug deshalb Reinhardt vor, die Knaben von Mädchen spielen zu lassen.
Reinhardt wies diesen Vorschlag lächelnd, doch entschieden zurück. Er wußte es
besser. Er besetzte die Rollen mit seinen jungen, hochbegabten
Schauspielern, auch mit einigen, die noch auf der
Theaterschule waren.» (2.14) In der Tat spielte August
Momber, (2.15) erst 1907 Absolvent der Schule, in der
Premiere den Otto, wurde am 1. Mai 1907 umbesetzt, spielte den
Georg, und am 29. August 1908 den Robert. Margit Gottlieb spielte am 27.
Februar 1907, ebenfalls noch Schülerin, die Martha Hessel. Am 29. Januar 1907
spielte Alfred Gorowicz den Wunderhold, am 10. Oktober 1907 Hans Wolf von
Wolzogen den Ernst Röbel.
Carl Ebert August Momber Otto Wallburg
Wie auch immer- die Anfangsschwierigkeiten der Schule waren
tatsächlich groß, und die Kritik des Ernst Bergmann höchstwahrscheinlich
berechtigt. Zumindest ein weiterer Zeuge spricht sich in dieser Hinsicht aus,
Gustav Rickelt, damals Vizepräsident der Bühnengenossenschaft. Er erklärte auf
Befragen: «Ich bin über die Verhältnisse der Reinhardtschen Theaterschule genau
unterrichtet und zwar aus folgenden Gründen: Als Direktor Reinhardt seine
Schule gründete, trat er an mich mit der Anfrage heran, ob ich eine Lehrerstelle
übernehmen wolle. Ich folgte dieser Aufforderung, war der erste Lehrer der
Schule und war dort mehrere Jahre tätig, habe dann aber meine Tätigkeit
aufgegeben, weil die ganze Arbeit und die Art und Weise, wie die Sache geleitet wurde, mir nicht gefiel,
insbesondere die Wahl der Schüler in sehr laxer Weise und ohne Rücksicht
darauf erfolgte, ob bei dem Bewerber eine Mission zur Kunst
vorlag. Ein solches Verfahren wollte ich nicht mitmachen.» (2.16)
Die Schüler des ersten Jahrganges, der umstrittenen «Nullserie»,
hatten nach ihrer zweijährigen Ausbildung offenbar keinen Grund, mit ihrer
jungen Schule zu hadern. Im Absolventenbuch finden sich u.a. folgende
Eintragungen: «Zum Abschied bitt ich Euch um eins: Vergeßt mich nicht Ihr
Lieben! Kulissenschuft, Kopist von Kainz hat sich hier unterschrieben. Hans
Wolf von Wolzogen.» Oder: «Es war sehr schön in diesen lieben Räumen, drum muß
ich jedes Jahr ein Weilchen hier versäumen. Curd Blümel.» Oder: «Auf in den
Kampf nun! Käthe Miessner.» Oder: «Es war doch schön... Margit Gottlieb.»
Unmittelbar darunter unterschrieb August Momber. (2.17) Zu
den Absolventen der ersten Jahre zählten auch Carl Ebert und Otto Wallburg.
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