„RobertoZucco“ von Bernard-Marie Koltés an der Schaubühne Berlin, Regie Peter Stein

 

 

 

Eine Wasserstoffbombe in der Psyche jeder Figur

 

Auf dem Dach des Gefängnisses zieht er sich aus und beschimpft die ganze Welt. „Man darf nicht versuchen, durch die Mauern zu kommen", ruft er, „denn hinter den Mauern sind andere Mauern, ist immer noch Gefängnis." Gemeint ist die stinknormale moderne Gesellschaft. Der das sagt, ist Roberto Zucco, ein wahnsinniger Kronzeuge, die Titelgestalt in Bernard-Marie Koltés' Schauspiel, das Peter Stein an der Berliner Schaubühne am Lehniner Platz mit großem Erfolg uraufführte.

 

Der Kriminalfall Zucco machte Ende der achtziger Jahre Schlagzeilen. Ein intelligenter athletischer junger Mann hatte mit neunzehn Jahren Vater und Mutter umgebracht, weil sie ihm das Auto nicht geben wollten. Wegen Unzurechnungsfähigkeit war er in eine psychiatrische Anstalt eingeliefert worden, hatte dort seine Reifeprüfung abgelegt und war vorzeitig entlassen worden. Als er sechsundzwanzig Jahre alt war, tötete er in einem Monat sechs Menschen. Eine Geliebte verriet ihn. Im Gefängnis floh er aufs Dach, verletzte sich, kam wieder in eine psychiatrische Klinik und erstickte sich mit einer Plastiktüte.

 

Am Lebensweg dieses Unglückseligen entzündete sich die Phantasie des 1989 im Alter von einundvierzig Jahren verstorbenen französischen Dramatikers Bernard-Marie Koltés. Er identifizierte sich, zeichnete Zuccos Fall sachlich nach, entdeckte Menschlicheres daran, als Polizeiberichte aussagen können, und gab ihm ästhetische Wahrhaftigkeit. Er sah in dem mehrfachen Mörder eine mythische Gestalt, einen Samson, einen mit sagenhafter Kraft begabten Helden. Insofern suchte er nicht psychoanalytisch nach Motiven der Morde eines Kranken. Er sichtete sie als Protest eines Individuums gegen eine soziale Lebensform am Ende dieses Jahrhunderts, in der der einzelne offenbar nur eine Chance hat: sich still und ergeben zu integrieren. Der Versuch, anders zu sein, auszubrechen, führt — so Koltés — ins Irrenhaus oder gar zum Mord, der dann unergründlich scheint. Denn die existierende Gesellschaft in ihrem allgemeinen Wahnsinn will den Sonderfall, die individuelle Ausgeburt, nicht wahrhaben.

 

Peter Steins subtil situationsgenaue Inszenierung in Jürgen Roses dreigeteilter Segmentbühne ist von dokumentarischer Strenge, opulent realistisch. Dadurch spielt Koltés' Sicht immer mit, dieses leise Verständnis für einen wahnsinnigen Mörder, in dessen motivlosem Handeln der eskalierende Irrsinn seiner Zeit kulminiert. Das ist nicht tragisch. Dafür gibt es im Grunde keine ästhetische Kategorie. Das ist die Wasserstoffbombe in der Psyche. Stein spürt sie auf. In jeder Figur. In jedem Vorgang. Ohne nur einen Moment zu verharmlosen, mit Empfinden für das Komische selbst im Horror. Gespielt von einem Ensemble exzellenter Schauspieler.

 

Hervorragend Dörte Lyssewski als Robertos Geliebte. Eine pummelige, scheu in sich geduckte Göre zunächst, lasch im Körper, liebt sie Zucco unterm Tisch der elterlichen Wohnung. Danach richtet sie sich auf, fühlt sie sich erwachsen, demütigt sie die ältere Schwester (Sabine Wegner) als Jungfer. Ihr Bruder (Ernst Stötzner), ein heuchlerischer Gockel, „dealt" sie an einen ungeduldigen Zuhälter (Rainer Philippi), der sie gefügig schlägt. Im Viertel Klein-Chicago wartet sie rank auf Kunden.

 

Den Zucco spielt bravourös Max Tidof, ein nerviger, gewandter Darsteller. Er zeigt einen grüblerischen Intellektuellen, einen Ausgestoßenen, Verlorenen, auf zäher, unsteter Suche nach einem Glück, das es nicht gibt. Frauen nimmt er aus Mitleid, nicht aus Liebe. Wie die Autos. Er wirkt nicht heruntergekommen in seinem Drillichanzug, eher wie ein Gentleman der Straße. Als er die Mutter (Imogen Kogge etwas theatral) tötet, ist das noch wie ein Ritual, das Erlösung bringen könnte. Wenn er sich mit einem Hünen (Nikolaus Dutsch) schlägt, scheint das wie Ersatz für seine unerfüllbare Sehnsucht nach dem Schnee in Afrika. Mit der eleganten Dame (Corinna Kirchhoff), deren Erschütterung über den ermordeten Sohn hohl ist wie ihr liebesleeres Dasein, versucht er einen frostigen Flirt. Aber die Angst, eingesperrt zu werden, macht ihn zittern. Aus dem Gefängnishof hangelt er aufs Dach. „Man muß über die Dächer fliehen, zur Sonne", ruft er den Insassen zu. „Zwischen Sonne und Erde werden sie nie eine Mauer ziehen." Ein glühender, blendender Sonnenball erhebt sich. Zucco, der Verrückte, steigt wie Ikaros hinan — und stürzt ins Nichts.

Bravorufe. Langer Beifall zur Premiere.

 

 

Neues Deutschland, 23. April 1990