„Zement“ von Heiner Müller an der Berliner Volksbühne, Regie Andreas Kriegenburg

 

 

 

 

Taumeln zwischen Demokratie und Diktatur

 

Heiner Müllers »Zement« nach Gladkow, 1973 unter Ruth Berghaus am Berliner Ensemble uraufgeführt, zum Beginn der Spielzeit 1996/97 an der Berliner Volksbühne. Solch Werk »mit einem großen historischen Aufbaupathos« (Müller) über die frühen Jahre der Sowjetmacht heute und hier? Regisseur Andreas Kriegenburg, wieder am Hause, ging das Wagnis ein. Mit überzeugendem Augenmaß polte er allen Heroismus auf ein menschliches Limit und sichtete die Kreatur, das Individuum, Weib wie Mann, neu geboren und doch verloren in diesem Aufbruch in eine neue Gesellschaft, welche sich bekanntlich trotz opfervollen Kampfes in ein Nichts auflöste, derzeit allenfalls noch Marktwert hat als Diffamierung kommunistischer Ideale.

Kriegenburg erfand eloquente Vorgänge. Etwa diesen: Makar, ein neunzehnjähriger Genosse, wird wegen einer Frauen-Affäre in »revolutionärer« Konsequenz erschossen. Zuvor muss er seine Stiefel abgeben. Gleb Tschumalow und Badjin, die Helden des Bürgerkrieges, greifen danach, halten sich die Botten an die Ohren, lauschen hinein wie auf ahnungsvoller, fast süchtiger Suche nach dem verlorenen Geist der Revolution. Ihr Verhalten ist so kindisch wie makaber, trifft aber die Unsäglichkeit jener Jahre des verzweifelten Ringens der jungen, unerfahrenen Sowjetmacht, Zeit des Taumelns zwischen Demokratie und Diktatur beim Ingangbringen der Wirtschaft - eskalierende Hilflosigkeit angesichts des Ausbleibens der Revolution in Deutschland (Müller: »... der Anfang vom Ende der Sowjetunion«).

Der Regisseur bringt das Stück also nicht als Dokument, sondern als Spiel, ja als kontrastreiches »Bei-Spiel«. Er ist nicht werkgetreu, lässt wichtige Zusammenhänge einfach weg. Was er zeigt, kommentiert er ständig, tragische, beklemmende Ereignisse immer wieder komisch »entspannend«, szenisch, auch musikalisch. Oft stellt er dafür einen Musikanten in die Szene. Dabei geht er unverkrampft vor, mit geschichtlichem Verständnis, und kommt eben dadurch zu objektivierender Wertung. Denn was sich in diesem Lande zutrug und sowohl Gladkow als auch Müller erzrealistisch aufarbeiteten, ist nun einmal ein gewaltiges Kapitel Menschheits-Geschichte. Daran ist nicht vorbeizukommen. Und mit heutigem Wissen betrachtet und ohne Scheuklappen lässt sich einiges erkennen, zum Beispiel über die Emanzipation der Frau, die nämlich mit der Oktoberrevolution einen gehörigen Schub erfuhr. Kronzeugen sind Dascha Tschumalowa, die Repräsentantin der Weiber, und ihr Mann Gleb, der Regimentskommissar, der mit oder ohne Partei erreichen will, dass das verrottete Zementwerk wieder produziert.

Cornelia Schmaus spielt als Dascha zunächst einmal tapfer gegen ihre Kostümbildnerin (Kathrin Plath) an, die sie in klobige, zu Clowns-Latschen verformte Stiefel zwängte. Aber gerade Dascha, die ihren Genossen wie ihren Feinden als Weib gefügig sein musste und trotz Demütigung zur Persönlichkeit reift, entzieht sich aller Komik. Die Schmaus schafft es, mit wenig Gestik und mit der Kraft und Dynamik ihrer Stimme, unprätentiös eine empfindsame Ahnung einzubringen von der ungeheuerlichen Anstrengung des historischen Versuchs, die Ausbeuter abzuschütteln. Und wie grotesk: Daschas in grausamem Kampf gewonnene Selbstbewußtheit trifft den Nächsten, den Genossen, den Ehemann, trifft Gleb!

Der freilich ist mir bei Roland Koch zu weich, zu salopp. Jedenfalls schöpft der Schauspieler das Debakel des Revolutionärs, bei der endlichen Heimkehr von der Front auf eine total emanzipierte Frau zu treffen, nicht tragikomisch aus - wie da ein Kommunist in Fragen der Ehe so ganz und gar ein »Besitz«-Bürger geblieben ist. Beckmesserisch formuliert: Die Schmaus gibt großes Drama, Koch scheint mal eben von der Operette zu kommen. Schon sein Tänzeln zum Auftakt gibt der Figur einen verspielten Touch, der den Ehekonflikt glättet, statt ihn auszuloten.

Durchaus ein Widerspruch, denn mal sarkastisches, mal unbeschwertes Spiel ist das bewegende Moment dieser phantasievollen Inszenierung. Pures Vergnügen beim Gaudi der Genossen mit einem amerikanischen Stummfilm; Nachdenken beim trotzigen Trommel-Konzert der Arbeiter, mit dem sie ihre Phrasen dreschenden Funktionäre vergraulen. Aber auch Szenen von elementarer Wucht. Daschas Befreiung aus der Gewalt der Weißen (Winfried Wagner als Offizier), arrangiert in russischem Birken-Wäldchen (Bühnenbild Stefan Heyne). Faszinierend wandlungsfähig Gerd Preusche als Badjin, überzeugend Justus Carriere als Ingenieur Kleist und Stephan Richter als Sergej Iwagin. Nachvollziehbar auch die epischen, von den Mythen abgezogenen Zwischenspiele. Justus Carriere mit dem Prometheus-Text, Jürgen Rothert mit »Herakles 2 oder die Hydra«.

Ein anspruchsvoller, ein gelungener Auftakt der Berliner Spielzeit in der Volksbühne.

 

 

 

Neues Deutschland, 7./8. September 1996