„Leonce und Lena“ von Georg Büchner und „Yvonne,
Prinzessin von Burgund“ von Witold Gombrowicz am Maxim Gorki Theater Berlin, Regie
Günther Gerstner
Lautes Agit-Pop-Spektakel
Etikettenschwindel muß ich nennen, was
deutsche Theater zunehmend betreiben. Sie locken mit Stücktitel und Autor;
sitzt der Zuschauer dann im Parkett, wird ihm nicht das avisierte Werk geboten,
sondern das, was der Regisseur davon übrig gelassen hat - ein Verfahren, das
marktwirtschaftlich gesehen zwar kaum angefochten werden kann, aber mit herben
ästhetischen Verlusten einhergeht. Denn nicht jeder Stück-Zertrümmerer und
Um-Montierer kriegt wie Großmeister Castorf eine passable Neu-Kreation
zustande.
Jüngstes Beispiel: Günther Gerstners Par-force-Regie
am Berliner Maxim-Gorki-Theater. Dort hat der gelernte Starkstromelektriker
zwei Komödien, »Leonce und Lena« von Georg Büchner (1813-1837) und »Yvonne,
Prinzessin von Burgund« von Witold Gombrowicz (1904-1969), zusammengestrichen
und eigene Texte hinzugefügt, um einen fetzigen Zwei-Stunden-Abend zu
erstellen. Zu sehen ist eine imitierte TV-Show, quasi Hella von Sinnen
dividiert durch Jürgen von der Lippe. Zwar werden keine Torten geworfen (auch
wird nur eine Hose heruntergelassen), dennoch fliegen einem die Spots der
zermarkteten Stücke laut um die Ohren.
Immerhin ist herauszuhören: Der Herr Spielmacher,
verhinderter Rock-Star aus Hof, Greifswald, Paris, München, hat offenbar einen
gehörigen Groll aufs Management der bundesbürgerlichen Gesellschaft. Bosse sind
für ihn gnadenlos über Leichen gehende Mörder. Mit solcher Draufsicht machte er
vorige Spielzeit am nämlichen Theater mit Schillers »Kabale und Liebe« Furore,
als er Präsident von Walter schonungslos als Killer präsentierte. Das Stück
ließ er beieinander, hob es freilich aus seinen vorgegebenen Verhältnissen.
Diesmal nutzt er
Büchners und Gombrowiczs Texte zu einem lauten »Agit-Pop-Spektakel« über einen
nichtsnutzigen Prinzen, der menschlicher Entwicklung nicht mehr fähig ist.
Nachdem sich Leonce im heimischen Spiegelsaal (Bühnenbild Hansjörg Hartung)
gehörig gelangweilt hat, zieht er als vergammelter Yuppi durch deutsche
Fürstentümer, gelangt bei seinem Trip mit Valerio (Tilo Werner) auch zur Mauer,
die von sächselnden Grenzern militant bewacht wird. Nachdem er eine Detonation
überstanden hat, fasziniert ihn Lena (Karina Fallenstein), die per Fesselballon
auf einem Autowrack einschwebt. Er kredenzt sie seinem Vater, dem König Peter
(Hans Diehl), in einer Waschmaschine. Prompt verzichtet der Herrscher aufs
Regieren, übergibt dem Sohn die Krone und geht denken.
Doch nichts da von ironischer Utopie! Kein Traum
von »musikalischen Kehlen, klassischen Leibern und einer commoden Religion«
(Büchner). Unvermittelt sind wir in Gombrowiczs Burgund, wo der überkandidelte
Prinz Philipp (Thomas Schmidt) sich unbedingt mit der hässlichen Yvonne (Ursula
Werner im Outfit der Müllerschen Umsiedlerin) verloben will. Was der Kammerherr
(Hansjürgen Hürrig) zu verhindern weiß, indem er zum Bankett eine Karausche
servieren läßt, an deren Gräten Yvonne erstickt. Prinz Philipp greift nicht
ein. Vor schwarz-rot-goldenem Hintergrund schaut
eine etablierte Clique zu, wie die hässliche Pute dahinstirbt.
Viel, sehr viel Spielastik mit Text, kaum Schauspielkunst.
Mit Ausnahmen. Hilmar Baumann ist prägnant in einem kurzen Auftritt als
Hofmeister, Hansjürgen Hürrig spielt exzellent den Präsidenten des Staatsrates,
Ursula Werner gibt trocken komisch die Gouvernante. Würde Gerstner nicht die
schrille Bilderflut läppischer Glotze-Unterhaltung nachzuäffen versuchen,
entstünde bei ihm vielleicht ein Empfinden für feinsinnig ironisches Spiel, das
er hier weder bei Büchner noch beim Gombrowicz anzustiften vermag.
Das ist die Crux: Wenn Theater das bessere Fernsehen sein
will, wird man es einsparen können.
Neues
Deutschland, 7. Oktober 1996