8. Der neue Darsteller (1951 – 1962)

 

 

 

 

 

 

8.8  Arno Wyzniewski, Katja Paryla und Christine Schorn in der Aufnahmeprüfung

«Entsprechend dem Wunsch namhafter Künstler, entscheidend an den Aufnahmeprüfungen für die Schauspielschule Berlin beteiligt zu sein», (8.121) wurde vom Ministerium für Kultur eine Aufnahmekommission gebildet. In Eilbriefen wurden im Februar 1957 Einladungen verschickt u.a. an Mathilde Danegger, Wolfgang Heinz (damals noch nicht als Direktor im Gespräch), Fritz Erpenbeck und Otto Dierichs. Die Bereitschaft zur Mitarbeit war gewiß vorhanden, aber die aufzubringende Zeit hielt dann doch die meisten Künstler davon ab, sich mehrere Tage nach Schöneweide zu begeben. Die Last und die Verantwortung blieben den dort fest angestellten Pädagogen.

Im Jahre 1958 regelte ein Plan den Ablauf der Aufnahmeprüfungen, wozu die Teilnehmer «in drei Gruppen zu etwa 20 Personen jeweils zwei Tage eingeladen» (8.122) wurden. Am ersten Tag war das Vorsprechen der Rollenausschnitte vor der Kommission. Danach war eine Klausurarbeit von ca. 2 Stunden zu schreiben. Zur Auswahl standen drei Literatur- und Geschichtsthemen. Ziel war, den Stand der Allgemeinbildung und des Intellekts festzustellen. Am 2. Tag vormittags wurden in einem Schauspiel-Seminar Übungen gemacht, sodann persönliche Gespräche geführt; schließlich wurde nachmittags als Test Unterricht in Sprechen und in Bewegung durchgeführt.

In der Erinnerung der Bewerber, die sich in jenen Jahren den Kommissionen stellten, sind derlei Details begreiflicherweise nicht bewahrt. Aus den Auskünften geht hervor, daß zwei Prüfungen üblich geworden waren: zunächst eine sogenannte Eignungsprüfung, danach die eigentliche und große Aufnahmeprüfung. Auffallend sind die unterschiedlichen Motivationen, die zum Gang in die Schule führten.

 

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Arno Wyzniewski, Absolvent 1959

 

Arno Wyzniewski, der sich 1956 bewarb, bekennt freimütig: «Wäre meine Mutter nicht gewesen, wäre ich wahrscheinlich nie Schauspieler geworden. Ich wollte eigentlich Schiffsbauingenieur werden und hatte mich beworben in Rostock auf der Schiffsbau-Hochschule. Da kam keine Antwort. Später hat sich herausgestellt: Die hatten einfach die Bewerbung verbummelt. Nun traf das zusammen damit, daß ich während meiner Oberschulzeit als Sprecherkind am Rundfunk arbeitete, beim Kinder- und Pionierfunk. Denen habe ich erzählt: Mein Abi rückt immer näher und ich weiß echt nicht, was ich machen soll. Da haben die mir den Tipp gegeben: "Arno, wir könnten uns vorstellen, daß aus dir vielleicht einmal ein Schauspieler werden könnte. Hast du nicht irgendwelche Lust?" Nun hatte ich damals überhaupt keine Vorstellung von diesem Beruf. Ich ging als Schüler genauso ins Theater wie alle anderen. Naja, ich habe das zu Hause erzählt und hatte eigentlich nicht allzu viel Lust. Aber meine Mutter fing doch ziemlich schnell Feuer. Bei ihr kippte so ein bißchen die Phantasie über. Meine Eltern waren sehr einfache Leute. Ich komme aus einer Arbeiterfamilie. Und meine Mutter hatte da vielleicht ein bißchen die Vorstellung: Schauspieler, das könnte den Familienstand heben. Es war zum anderen natürlich die Überlegung, daß der Sohnemann irgendwo erst mal sicher untergebracht ist nach der Oberschule. Es war ja für Arbeiter damals wirklich noch was ganz Besonderes, wenn ihre Kinder überhaupt Abitur und dann auch noch ein Studium machen konnten. Naja, ich war damals noch in einem Zustand, wo ich das alles nicht so richtig ernst genommen habe, vielleicht auch noch nicht so sehr bewußt an mein kommendes Leben gedacht habe. So ist meine Mutter schließlich zur Schauspielschule gegangen und hat sich erkundigt, was da überhaupt zu machen ist, und hat mir die Unterlagen besorgt.

Dann habe ich mich mit meinen ziemlich nebulösen Vorstellungen auf die Socken gemacht, bin hin zur Schule und habe mich dieser ersten Prüfung gestellt. Das waren damals ungefähr 800 Bewerber. Und ich hörte, daß maximal 30 Leute aufgenommen werden. Da dachte ich, das kannste gleich vergessen. Ich hatte mir als Vorsprechrollen — ich war damals mit der Kleinste in der Oberschule, wirkte ungeheuer jung - Heldenrollen ausgesucht. Den Rudenz, den Orest aus der "Iphigenie". Das einzige, was einigermaßen hinhaute, war der Fridolin aus "Shakespeare dringend gesucht". Ich hatte kaum Atem geholt, wurde ich schon unterbrochen von einem sehr gestrengen Herrn, einem Mann, den ich dann später sehr geschätzt habe, das war der alte Kepich. Der gehörte zum Lehrpersonal, ein alter, gestandener Schauspieler, ein sehr guter Pädagoge. Und der sagte: "Bevor Sie überhaupt anfangen, nehmen Sie mal die Hände aus den Hosentaschen." Das ist meine Erinnerung. Es hat sich dann herausgestellt: Es waren die völlig falschen Rollen. Die konnten sich überhaupt kein Bild machen. Wie ich später erfuhr, spielte man mit dem Gedanken, mich erst einmal ein Jahr zurückzustellen, damit ich den nötigen Ernst bekäme für die ganze Sache. Meine Rettung war Martin Flörchinger, der mit im Gremium saß, und der vorschlug, daß ich mit anderen Rollen erscheinen sollte. Man empfahl mir "Leonce und Lena". In meiner Aufregung und Rage aber habe ich gar nicht hingehört, welche Rolle ich vorsprechen sollte. Ich kam nach Hause und las das Stück. Da stand für mich fest: Kannste eigentlich nur den Valerie nehmen. Der war natürlich nicht gemeint, die wollten den Leonce sehen. Auch vom Truffaldino aus "Diener zweier Herren" sollte ich etwas vorsprechen. Den Fridolin durfte ich behalten. Naja, mit diesen Rollen kam ich dann durch...»  (8.123)

 

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Arno Wyzniewski als Pandarus in Shakespeares „Troilus und Cressida“

 

 

Arno Wyzniewski, geboren 1938, gehörte seit 1977 dem Berliner Ensemble an und spielte dort u.a. den Kardinal Inquisitor in Brechts «Galileo Galilei» (1978), den Peachum in der «Dreigroschenoper» (1981) und den Mephistopheles in Goethes «Urfaust» (1984).

 

 

 

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Katja Paryla, Absolventin 1963

 

 

«Ich muß ehrlich sagen», erinnert sich Katja Paryla, die sich 1960 bewarb, «es ist etwas Besonderes, daß ich noch Schauspielerin werden durfte, denn ich hatte schon ein Studium absolviert. Ich hatte an der Kunsthochschule in Weißensee Modegestalterin studiert. Natürlich habe ich Schwierigkeiten gehabt. Man kann ja nun nicht ein Studium absolvieren und gleich sagen: Ich studiere weiter. Ich war mit meinen Eltern aus Wien hier hergekommen und muß sagen, es war schon eine tolle Sache, daß ich überhaupt hier studieren konnte. Als ich dann den Wunsch äußerte, ich möchte weiterstudieren, habe ich eigentlich bei allen absolutes Unverständnis geerntet. Am meisten bei meinen Eltern. Dann habe ich Prof. Heinz vorgesprochen, er war damals ja Direktor, ob das überhaupt noch einen Sinn hat. Und das war der Beginn von der ganzen Geschichte...

Ich habe versucht, mir das mal zu überlegen, was das so ist — eine Aufnahmeprüfung. Da muß ich erst einmal sagen, daß für mich an diesem Beruf etwas ist, das kann man ganz schwer ausdrücken. Man möchte auch nicht in Plattitüden abrutschen. Aber irgendwo hat er eine Verzauberung. Ich muß es so aussprechen. Man kann da nun sagen, man möchte viele Menschen darstellen, man möchte viele Leben leben. Das stimmt alles, hat auch mit Eitelkeit zu tun...

Und wenn ich jetzt so zurückdenke und mir überlege, wie denn dieser Weg war zu dieser Aufnahmeprüfung. Ich kann mich also genau noch erinnern, was ich anhatte. Es war ein grauer Pullover, ein schwarzer Rock, ganz spitze Schuhe, war damals modern, blond gefärbte Haare, ganz kurz. Das sehe ich alles noch vor mir. Und dann: So ein Haus, in das man hineingeht, um so eine Prüfung zu machen mit all der Aufregung, die dabei ist - so ein Haus hat etwas Geheimnisvolles. Weil es so weit weg ist von der Möglichkeit, daß man da dann arbeitet. Es ist etwas Unheimliches, etwas Merkwürdiges. Wenn ich mich jetzt zurückerinnere, wie man dann, wenn man an der Schule ist, sich so ein Haus zu eigen macht, wie das ein Arbeitsgebiet wird, da kann man auch sagen — Verzauberung... Ich sehe die große Aufnahmeprüfung noch vor mir. Wolfgang Heinz saß da. Frau Prof. Glaser, Penka, Danegger waren dabei. Vorgesprochen habe ich natürlich das Gretchen, die Kerkerszene, dann die heilige Johanna von Shaw. Am meisten nervös war ich, ob ich auch noch ein Gedicht aufsagen muß... Ich sehe immer noch diese schreckliche alte Probebühne mit diesen beiden Bühnen, ja ich rieche die Schule noch. Dieses "Sie haben bestanden!" hat sich dann in eine große Freude umgewandelt. Die Fahrt nach Hause in der S-Bahn war schon etwas ganz Tolles.»  (8.124)

 

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Katja Paryla in „Iphigenie auf Tauris“

 

 

Die 1940 als Tochter des Schauspielers und Regisseurs Emil Stöhr geborene Katja Paryla gehörte seit 1978 zum Ensemble des Deutschen Theaters. 1965 war sie die Jette in «Moritz Tassow» von Peter Hacks an der Volksbühne, 1971 die Rosaura in «La donna di garbo» von Goldoni am Maxim Gorki Theater. 1984 spielte sie am Deutschen Theater Goethes «Iphigenie» in der Inszenierung von Alexander Lang. Nach 1998 arbeitet sie vorwiegend als Regisseurin, am Deutschen Theater in Berlin, am Nationaltheater Weimar.

 

 

 

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Christine Schorn, Absolventin 1963

 

 

Christine Schorn, die sich ebenfalls 1960 bewarb, berichtet temperamentvoll: «Ich wußte wirklich nicht, was mich bewegt hatte, obwohl meine Eltern Schauspieler waren. Ich war mir überhaupt gar nicht sicher, was ich da machen müßte, hatte mich auch mit meiner Mutter gar nicht besprochen und überhaupt niemand zu Rate gezogen, sondern machte mich auf die Socken. Und da meine innere Haltung nicht klar war, warum ich das überhaupt wollte, hatte ich die Sache ein bißchen lax genommen. Nun war ich sechzehn, gerade 10. Klasse hinter mir. Ich ging also los, hatte ein bißchen geübt, dieses und jenes. Die heilige Johanna, die Shawsche, hatte ich im Rucksack. Ich weiß noch, was ich anhatte: ein unmögliches Kleid, mit so großen Blumen, es sah sehr imposant aus. Mein Auftreten bestand aus Angst und Schüchternheit, doch ich ging irgendwie dagegen an. Jedenfalls habe ich meinen Part geliefert. Und da war der Engel vieler angehender Schauspielerinnen: Doris Thalmer. Sie muß an mir irgendetwas gesehen und gedacht haben: Hinter dieser blöden Arroganz muß doch etwas sein. Ich war jedenfalls durchgeflogen, ist ja klar. Und sie sagte: "Mädchen, ein Jahr später und so." Und sie gab mir Rollen, die ich arbeiten könnte. Aber ich wußte gar nicht, was ich arbeite und mit wem. Da kam dann doch meine Mutter zu Hilfe und sagte, wir haben die Bekannte, die Amy Frank. Ich arbeitete dann auch mit ihr die Rollen. Das war furchtbar aufregend. In einer Garderobe der Kammerspiele haben wir probiert, da war alles mit Samt ausgeschlagen. Also: Sie hat mich geduldet, eine ganz liebe, freundliche Frau. Ich war völlig verklemmt, wußte gar nicht, wohin das gehen soll. Eines Tages kriegte ich ein Telegramm: Bitte Vorsprechen im Deutschen Theater zwecks Rolle. Da habe ich gedacht, nun haben die mich gleich genommen. Ich bin da hin, und es stellte sich heraus: Paryla inszenierte "Die dritte Schwester". Ich sprach vor. Es war katastrophal. Der redete auf mich ein. Ich wußte: Das kannst du nie, der kann reden, was er will, da brauchst du gar nicht hinhören. Sie haben mich nicht genommen, was mir klar war. Bin ich wieder nach Hause gegangen.

Dann war also dieses Jahr, das war wirklich wichtig und entscheidend, weil ich richtig gearbeitet habe, als Verkäuferin, in einer Wäscherei und in einer Etikettenfabrik. Ich habe auf meine kleinere Weise — Schule des Lebens! — erst mal so bißchen fundamentiert. Dann kam ich zur zweiten Eignungsprüfung, und sie nahmen mich. Ich hatte die gleichen Rollen gearbeitet, nahm allerdings dazu noch die Natascha aus "Nachtasyl", die Geschichte, wo sie sich die Beine verbrüht, wo sie so schreit. Ich dachte, das wirkt immer.

Nun kam der Tag der Aufnahmeprüfung. Das Verblüffendste war: Vor dem großen Engel, Frau Thalmer, hatte ich Angst, weil sie damals ganz schön wüst aussah mit diesen langen Locken, dann diese runde Brille. Man dachte: O, diese Frau läßt dich gleich durchplumpsen. Von der Prüfung weiß ich nur noch, daß sie in diesem langen Flachbau, in der Probebühne war, und daß ich mir eigentlich nicht viele Chancen ausgerechnet hatte. Bei der Natascha hing ich auch noch. Leidenschaft ist wichtig, dachte ich, immer raus damit, hab' auch echt geweint. Ganz weit hinten im Dunkeln saß die graue Eminenz, saß Wolfgang Heinz, und sagte: "Ja, bitte, kommen Sie runter!" Ich setzte mich auf einen Stuhl vor ihn hin, und er sagte: "Ja, meine Liebe, was haben Sie in Mathematik?" Da habe ich gedacht: Verdammt, jetzt biste dran! Na gut, dachte ich, auf Wiedersehen, und habe nichts gesagt. Dann sagte er: "Ja, meine Liebe, dann können Sie sich ausrechnen, daß Sie die Prüfung bestanden haben." Das war's dann — mit diesem großen Satz!» (8.125)

 

 

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Christine Schorn (r.) mit Katja Paryla in „Weiße Ehe“ von Rozewicz

 

 

Christine Schorn, 1944 geboren, ging 1964 von der Schule direkt ans Deutsche Theater in Berlin, wo sie in Rosows «Unterwegs» gemeinsam mit Dieter Mann in der Regie von Friedo Solter und Hans-Diether Meves ihren ersten großen Bühnenerfolg hatte. 1966 spielte die außerordentlich wandlungsfähige Schauspielerin die Recha in Lessings «Nathan dem Weisen», 1972 die Lady Milford in «Kabale und Liebe», 1981 die Ehefrau in Rozewiczs «Weißer Ehe», 1984 die Gutsbesitzerin Ranjewskaja in Tschechows «Kirschgarten»  -  um nur einige Rollen zu nennen.

 

 

 

 

 

Anmerkungen:

 

8.121  Aktennotiz v. 12.2.1957, Archiv M. f. K., o.Sign.     Zurück zum Text

8.122  Vorgesehener Plan f.d. Aufnah­meprüfungen v. 20.2.1958, Ar­chiv M.f.K., o. Sign.    Zurück zum Text

8.123  Gespräch m. Arno Wyzniewski v. 23.9.1985, Archiv G. Ebert, Tonb.-Aufz.    Zurück zum Text

8.124   Gespräch m. Katja Paryla v. 27.9.1985, Archiv G. Ebert, Tonb.-Aufz.    Zurück zum Text

8.125   Gespräch m. Christine Schorn v. 16.9.1985, Archiv G. Ebert, Tonb.-Aufz.    Zurück zum Text

 

 

 

 

 

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