„Wölfe und Schafe“ von Alexander N. Ostrowskij am Maxim
Gorki Theater Berlin, Regie Volker Hesse
Volker Hesse, der Intendant des Berliner Maxim Gorki
Theaters, das in dieser Spielzeit seinen 50. Jahrestag feiern wird, setzt Zeichen.
Zum Auftakt der Saison 2002/03 inszenierte er die Komödie „Wölfe und Schafe“
von Alexander N. Ostrowskij (1823-1886) und ließ sich nicht nehmen, das
Hasardspiel der alten Jungfer und reichen Gutsbesitzerin Mursawjetzkaja, das er
burlesk ankurbelte, auch als Bühnenbildner zu betreuen.
Er assoziierte das „finstere Reich“ (Dobroljubow),
russische Provinz des 19. Jahrhunderts. Gutsbesitz bei ihm durch eine Zugbrücke
vom Volke getrennt. Dunkler, dichter Wald beiderseits der Bühne, schwarz,
undurchdringlich auch im Hintergrund schön gefährlich auf die Leinwand
gepinselt. Allgemeine Finsternis also und Bedrohung signalisierende Tonkulisse
- Heulen der Wölfe.
Ansonsten kommt Hesse mit ein paar Stühlen und drei als
Liegestatt genutzten überdimensionalen Kissen aus, obgleich die Ausstattung
beim russischen Dichter eigentlich ein wenig Milieu erheischt. Verfall des
Gutes. Altmodische Möbel. Ende der Leibeigenschaftsgesellschaft. Details für
den Fall, dass der Regisseur nicht primär Turbulenz, sondern eine konkret aus
ihrer Zeit heraus lebende Komödie inszenieren will.
Aber Traditionspflege scheint nicht angesagt, etwa die
des Maxim Gorki Theaters im einst sozial-realistischen Umgang mit russischen
Dramatikern. Volker Hesse, von 1993 bis 1999 Chef des Zürcher Neumarkt
Theaters, hat andere Prioritäten. Er wünscht sich, dass „Spieler und
Zuschauende in gemeinsamer Freude am Spiel“ zusammenfinden. Er bürgt für
umgänglich vitales Agieren, etwas grobkörnige, zuweilen äußerliche Komik sowie
insbesondere für effektvoll theatralisierte Beziehungen der Figuren, wobei auch
Wahrhaftigkeit, reales menschliches Verhalten zustandekommt.
In dieser Hinsicht erfreulich natürlich ist Jacqueline
Macaulay als reiche Gutsbesitzerwitwe Kupawina, jene begüterte, aber
lebensnaive junge Frau, die von der gerissenen Mursawjetzkaja gnadenlos
erpresst und ausgeplündert wird. Die Schauspielerin trifft in Geste und Diktion
die kindlich-unschuldige Unwissenheit eines Mädchens vom Lande, das für die
Liebe geschaffen ist, aber nicht für die neuerdings leider notwendig gewordenen
Geschäfte. Denen ist sie nicht gewachsen. So unterschreibt sie denn einen
Blankowechsel und freut sich entzückt, wie herrlich einfach man zu Geld kommen
kann. Den Machenschaften ihres durchtriebenen Sachwalters Tschugunow (Hilmar
Baumann in tadellosem Frack ein nobler Schurke) ist sie ahnungslos
ausgeliefert. Und was die Mursawjetzkaja über Schulden behauptet, glaubt sie
bedingungslos, ist dieses alte Fräulein in ihren Augen doch die angesehenste
und einflussreichste Person im Landbezirk.
Ostrowskij erzählt von den eingefahrenen, aber
bröckelnden Macht-Hierarchien am Ort, davon, wie Korruption und Betrügerei
bisher schamlos regierten und nun ein neuer Mächtiger auftaucht und neue Regeln
skrupellosen Heuchelns etabliert. Der gerissene Gutsbesitzer Berkutow (Michael Lucke
überlegen-sachlich), Nachbar der Kupawina, macht in Petersburg Geschäfte und
sieht die schöne Heimat nur unter dem Blickwinkel, wo eine Brantweinbrennerei
hingebaut werden könnte. Berkutow, der Unternehmer der neuen Zeit, zerschlägt
die Gaunerei der Mursawjetzkaja und sorgt zugleich dafür, dass deren Ansehen im
Landbezirk nicht lädiert wird; denn er will gewählt werden, hat größere
Gaunereien vor und baut auf den alten, zwar abgewirtschafteten, aber noch
einflussreichen Landadel.
Gelegenheit durchaus für einen Regisseur zu aktualisieren.
Was beim Dichter 1875 noch „Keime“ sind in Sachen Kapitalgesellschaft, in
Sachen „Wölfe fressen die Schafe“, ist bekanntlich nach wie vor gang und gäbe.
Heuchelei, Gaunerei, Korruption, Lug und Trug in nie gekanntem Ausmaß. Aber
Volker Hesse hält sich heraus, lässt die Figuren sich ausleben, ohne sie vordergründig
zu vergegenwärtigen oder sie kritisch verfremdet vorzuführen.
Distanz zur Missetäterin Mursawjetzkaja stellt die
Darstellerin her. Ursula Werner gibt dieser Gestalt das Profil einer scheinheiligen,
hinterlistigen Alten, verschlagen böse auf ihrem Stuhle hockend, ihren Neffen
Apollon prügelnd, auflebend, wenn ihr untertänig Vertrauter Tschugunow erscheint,
ihr den Rücken massiert oder nützliche Fälschungen präsentiert.
Monika Lennartz zeichnet zurückhaltend eine
senil-verschrobene Tante Anfussa. Auch Marcus Mislin als schmerbäuchiger,
unbeholfener Junggeselle Lynjajew trifft die Mentalität der Komödie. Er ist ein
gewisser Ruhepunkt im ansonsten äußerlich wirbeligen Spiel. Die ihn erobernde
Glafira (Anna Kubin) muss zu außergewöhnlichen theatralen Mitteln greifen. Wenn
sie ihr Begehren, unter Lynjajews Haube und an dessen Gutsbesitz zu kommen, in
wilder, sich spreizender Leidenschaft austobt, scheint das Stück plötzlich von
einem zeitgenössischen Jungdramatiker zu stammen.
Bei einem Darsteller stimmen Spielturbulenz und Lebenswahrscheinlichkeit
glücklich überein, bei Fabian Krüger, der den Neffen Apollon zu kreieren hat.
Dieser ständig stockbetrunkene, verarmte junge Landadlige, der nur seinen Hund
und den Tabak im Kopfe hat und von der Mursawjetzkaja mit der Kupawina
verkuppelt werden soll, wird von Krüger mit wahrer Bravour serviert, gestisch
wie sprecherisch exzellent. Wenn der einen Heiratsantrag bei der Kupawina landen
will und schließlich weinerlich bei der Klage um Geld für Tabak endet, ist das
ein Kabinettstück allererster Güte. Den läppischen Abgesang allerdings auf
seinen von Wölfen zerrissenen Hund sollte sich die Regie sparen.
Das Premierenpublikum spendete der kommunikationsfreudigen
Aufführung langanhaltend Beifall.
Neues Deutschland, 19. September 2002