„Die Winterschlacht“ von Johannes R.
Becher am Nationaltheater Weimar, Regie Gotthard Müller
Bechers trotzige Sehnsucht
Die Aufführung beeindruckt durch die Konsequenz, mit der die Fabel von der Dramaturgie (Sigrid Busch und Grit Goldberg) herauspräpariert und von der Regie (Gotthard Müller a.G.) in Szene gesetzt wurde. Das vom Dichter wahrhaftig nicht vordergründig auf Abläufe gearbeitete Werk wird zu zügigem und mühelos nachvollziehbarem Geschehen verdichtet, durch Musik (Konrad Aust) emotionsbetont unterstützt. Die gekürzten Meditationen wirken nicht retardierend und sind — über Lautsprecher eingesprochen — entpathetisiert. Die komplizierten Wege des Johannes Hörder und des Gerhard Nohl werden unmittelbar sinnfällig.
Aber transportiert die pralle Gegenwärtigkeit der Fabel wirklich genug von der reichen poetischen Substanz dieses klassischen Werkes des sozialen Realismus? Zu Johannes R. Becher gehören Wohllaut der Sprache und eigenwilliges Pathos. Neben bewegten sozialen Beziehungen der Figuren, deren Aktionen dramatisch aus epischer Abfolge herausbrechen, stehen pathetische Meditationen der Figuren, stehen dialogisierte Welt- und Selbstbetrachtungen, nur bedingt fabeldienlich, auch nicht gestisch, aber doch eben geschrieben, weil der Dichter Auffassungen von Menschen spiegelt, weil er einen Querschnitt zu geben trachtet über Misere und Hoffnung deutschen Denkens in der Nacht des Faschismus.
Da ist noch Wesentlicheres, latent
dem Werk innewohnend: Die ins Poetische gehobene politische Haltung des Dichters,
seine feste, sieghafte Gewißheit in die Zukunft des deutschen Volkes. Tiefe Wehmut,
Bestürzung und Trauer, gewiß, aber auch Glücksgefühl und der ungebrochene
Stolz des parteilichen und patriotischen deutschen Dichters auf seine deutsche
Nation selbst in ihrer erbärmlichsten Stunde. Sollten solche Haltungen heute
und hier nicht empfindbar werden, sollten wir ihnen nicht ästhetischen Reiz
verleihen, hier, in unserem Lande, wo sich Bechers trotzige Sehnsucht in
Gestalt der sozialistischen deutschen Nation realisiert?
Theater, wie wir es heute verstehen
und pflegen, sucht diese poetischen Impulse über die Fabel und über das soziale
Verhalten der Figuren zu vermitteln. Das ist eine, Bertolt Brecht zu dankende,
schwer erkämpfte Errungenschaft, die wir behaupten müssen. Aber wir sollten
zugleich immer wieder sondieren, was solche Spielweise objektiv und effektiv
zu leisten vermag. Für Becher ist sie ganz einfach zu schmal, von zu geringer
Bandbreite. Zudem verlieren ästhetische Errungenschaften an Lebens- und
Wirkungskraft, wenn nicht — von ihnen ausgehend — ständig versucht wird, neue
Dimensionen zu erschließen. Bechers Werk, dessen poetische Virtualität vor
allem, wäre schöpferische Aufgabe und Möglichkeit in eben diesem Sinne. Der
Weimarer Inszenierung ist zu danken, auf diese, wie mich dünkt, Entwicklungsproblematik
unserer Schauspielkunst aufmerksam gemacht zu haben, dadurch, daß sie aus
Bechers perspektivischer Tragödie der deutschen Nation das Handeln der Figuren
prosaisch-direkt und mit prägendem Stilwillen ins Spiel brachte.
Agiert wird in einem praktikablen, einfach
und geschmackvoll von Bernhard Schröter a. G. raumvielfältig eingerichteten
Bühnenbild. In gedämpftem Licht erheben sich drei Hügel, Spielflächen, die sich
bei Szenenwechsel schnell in Panzer oder Gefechtsunterstände verwandeln lassen.
Die Begebenheiten in der deutschen Stadt spielen links und rechts im Vordergrund.
Und der Regisseur arrangiert das Geschehen folgerichtig in diese Spielräume.
Mit wenigen stürmischen Schritten kann Johannes Hörder aus der elterlichen
Wohnung hinaus aufs Schiachtfeld gelangen, was zugleich seine erbarmungswürdige
Verlorenheit signalisiert. Die Flucht aus der elterlichen Hölle wird zur Flucht
in die Hölle faschistischen Mordbrennens. Übergänge von Szene zu Szene sind
dergestalt nicht formale Abläufe, sie werden fabeldienlich gehandhabt, mit
ihnen werden inhaltliche Prozesse schaubar gemacht.
Ins Blickfeld rückt das Tun und Lassen der
beiden jungen faschistischen Soldaten Johannes Hörder und Gerhard Nohl, und
dies insbesondere für die zahlreichen jungen Zuschauer, die den Faschismus und
den 2.Weltkrieg nur aus dem Geschichtsbuch kennen. Unaufdringlich wird eine
noble didaktische Absicht spürbar. Der Konflikt des jungen Hörder ist
nachvollziehbar, dessen Verstricktsein in ein Schicksal, aus dem auszubrechen ihm
nicht mehr gelingt. Humanistische Verantwortung auch unter faschistischem
Regime wird postuliert.
Detlef Heintze als Johannes Hörder sucht
die Widersprüche der Figur. Aufrecht und stramm, eine treue deutsche Seele,
tritt er ans Mikrophon des Reporters, schwer wird ihm die Zunge, wenn er begreift,
daß er Unwahrheiten kolportieren soll. Bemerkenswert, wie Heintze die zunehmende
Vereinsamung, das Ausgeliefertsein des Johannes mit jugendlicher Unbekümmertheit
bricht, so die Figur immer wieder identifizierendem Interesse empfehlend.
Wenig überzeugt hat mich sein »Ich kann nicht anders« am Grab der gefangenen
Partisanen. Das Historische dieses Vorganges, das Aufbegehren eines jungen
Deutschen gegen den Faschismus, die Geburtsstunde eines deutschen
Antifaschisten, bleibt verborgen, wird nicht durch sozial konkretes, den
Vorgang genau erfassendes gestisch-mimisches Spiel transparent.
Gerhard Nohl gleichaltrig wie Johannes
Hörder zu besetzen, scheint mir nicht unbedingt ein Vorzug; denn die Argumente
Nohls sind bereits im Vorspiel mehr als nur jugendliches Ahnen, nämlich
bewußte, behutsam gezielte Agitation. Und wenn Nohls Argumente nicht aus
reifer, wissender Lebenserfahrung kommen, werden sie zu abstrakter, ahistorischer
Klugheit, so präzise sie gesetzt werden. Peter Rauch vermag diesen Widerspruch
trotz kraftvoller, lauterer Direktheit, die er dem Nohl gibt, nicht zu
überspielen.
Fred Diesko stellt einen elanvollen SS-Obergruppenführer
Karl Hörder dar, einen Mann von windhundhafter Flinkheit, einen Vater, der die
Weihnachtsbescherung geschäftsmäßig abwickelt, an der Familie vorbeilebt und
-redet und nur einmal ein menschliches Rühren zeigt, als er plötzlich
befürchten muß, wegen des Flugblattes selbst Unannehmlichkeiten zu bekommen.
Angst flackert auf in diesem eiskalten Nazi, der seine innere Leere und
Hohlheit hinter äußerer Betriebsamkeit und Agilität zu verstecken sucht.
Diesko ist sehr zurückhaltend mit eigenen Wertungen der Figur. Er liefert sie
temperamentvoll selbstsicher dem Urteil des Zuschauers aus, auf das er vertraut.
Linde Sommer überzeugt durch die
ruhige Gefaßtheit, die sie der Maria Hörder zu verleihen vermag, wenngleich
dadurch die schließliche Tat, der Schuß auf ihren Mann und Mörder ihres zweiten
Sohnes, zu plötzlich und unvermutet hereinbricht. Der Konflikt zwischen wachsender
Gewißheit und nach außen gekehrter Gelassenheit ist möglicherweise deutlicher
spielbar. Rosemarie Deibel zeichnet eine aufdringlich-geschwätzige Faschistin
von Rundstedt, mit glatter Geflissenheit stattet Fred Graeve den Major von
Rundstedt aus. Bescheiden und unscheinbar gibt Gudrun Volkmar die Anna Nohl,
deren politische Wachheit hinter geduldiger Verhaltenheit absichernd. In
weiteren Rollen Dietrich Mechow als Josef Nohl, Victor Dräger als General, Hans
Radloff als Panzerleutnant und Karl Albert als Kriegsberichter.
Gestrichen sind der Junker von Quabbe
und der russische Fürst. Das hat zweifellos das zügige Spielen der Fabel begünstigt,
zugleich aber soziale Dimensionen des Stückes abgebaut. Gestrichen ist auch der
Kommandeur der Roten Armee. Dieser Verzicht auf einen Historie einbringenden
Vorgang mag aus heutiger Sicht vertretbar sein, da in unserem Parkett nicht
mehr jene sitzen, denen warnend gesagt werden muß, daß für Feinde kein Weg nach
Moskau führt. In Weimar hat Martin Zehner, der Darsteller der komischen Figur
des Stückes, des Oberkofler, das — wenn auch nicht des Dichters — letzte Wort,
damit psychologisch geschickt das Gesamtgeschehen noch einmal in die
Sympathie des Publikums hebend, das mit langanhaltendem herzlichen Beifall für
die Aufführung dankte.
Theater der Zeit, 1/1976