„Die Wildente“ von Henrik Ibsen im Maxim Gorki Theater Berlin, Regie Deborah Epstein und Marcus Mislin

 

 

Fragwürdiger Kämpfer gegen die Lebenslüge

 

 

Wenn ein Wahrheitsapostel mit blindwütiger Indiskretion eine bis dato des Lebens zufriedene Familie ins Unglück stürzt, gehört der Mann kritisiert; auch wenn er Gregers Werle heißt und aus Henrik Ibsens Schauspiel »Die Wildente« stammt. Aber leider scheint der Regie-Nachwuchs nirgends mehr zu lernen, wie eine Figur mit be­hutsamer Verfremdung vom selbstherrli­chen Podest gehievt und deren erbärmli­ches Verhalten dem Zuschauer bewußt gemacht wird.

Die jungen Inszenatoren Deborah Epstein und Marcus Mislin am Maxim Gorki Theater Berlin identifizierten sich mit dem fragwürdigen Kämpfer gegen die Le­benslüge. Sie versuchen, Ergötzen nicht aus ironischer Distanz zu dem Fall zu finden, sondern durch einfühlsames Aus­spielen seiner Absonderlichkeiten. Dabei kaschieren sie das Kritikwürdige der Fi­gur, vermögen andererseits die Gestalten durchaus konkret zu zeichnen.

Benutzt wird eine Übersetzung von Pe­ter Zadek und Gottfried Greiffenhagen in eigener Fassung des Theaters, die die Handlung mit Dialog-Naturalismen auf­dröselt. Das Geschehen zusätzlich mit spießigen Gesängen eines Männerchores zu dehnen, hat immerhin den Effekt, daß sie kleinbürgerliche Atmosphäre assozi­ieren, eine Ahnung von provinzieller Stu­pidität. So kriegt man denn im auf Natürlichkeit bedachten Bühnenbild der Eli­sabeth Pedross - ein notdürftig bewohn­bar gemachter Dachboden - eine spröd komische Familienidylle zu sehen, existentielle Geworfenheit zwischen fröhli­chem Klimbim und tragisch Absurdem. Das hat abstruse Gags, aber auch Szenen von anrührender Eindringlichkeit.

Was Werle Junior betrifft: Die Regisseure halfen dem Darsteller Thomas Schmidt, seine theatralen Exaltiertheiten abzule­gen und wesentlich zu sein. Bis zur Pause ist er zwar artikulatorisch schwach, findet dann aber zu verständlicher Sprache. Er spielt unaufdringlich die eitle Selbst­gefälligkeit eines jungen Bourgeois, der wähnt, völlig lauter zu handeln. Als auf­müpfiger Sohn eines Großkaufmanns und Bergwerksbesitzers lebt dieser Gregers mit stillem Eifer seinem zweifelhaften Ideal. Seit Jahren ist er wieder zu Hause und erfährt, daß sein Freund Hjalmar Ekdal das ehemalige Dienstmädchen Gina geheiratet hat, von dem er weiß, daß deren Tochter Hedwig das uneheliche Kind seines Vaters ist. Prompt findet er keine Ruhe mehr und verläßt das Elternhaus, um Hjalmar reinen Wein einzu­schenken, zieht sogar zur Untermiete in dessen Wohnung. Schließlich redet er der 14jährigen Hedwig ein, sie müsse die Wildente erschießen, um die Gunst ihres Stiefvaters, der sie verstoßen hat, wieder zu erlangen. Und er führt wie Rumpel­stilzchen einen makabren Freudentanz auf, als er glaubt, mit seinen Einflüsterungen Erfolg zu haben. Doch die ver­zweifelte Hedwig hat nicht die Ente, son­dern sich getötet.

Die Symbolik aus Ibsens dramatischer Bastelstube der Jahre 1883/84 - das muß spätestens hier gesagt sein - ist so über­zeugend nicht. Der Vergleich zwischen behüteter unehelicher Tochter und umsorgter verwundeter Ente mutet heutzu­tage arg konstruiert an. Aber wenn man das Stück jetzt will, muß man sich halt der Sache stellen. Das Regieteam behan­delt sie ohne Abstand. Hedwig, von Re­gine Zimmermann mit etwas vorder­gründiger, aufdringlicher Kindlichkeit ge­macht, posiert zu ihrem Geburtstag in einem Federkostüm. Auch vorher schon spielt die ganze Familie gelegentlich pan­tomimisch ein bißchen lahme Ente. Äs­thetisch ist das kaum von Gewinn. Noch weniger ist's die Regie-Manier, immer wieder einen soeben beendeten Vorgang durch andächtiges Innehalten der Figu­ren nachdrücklich ausklingen zu lassen. Solch theatrale Überzeichnungen sind überflüssig.

Roland S. Blezinger, ein korpulenter junger Mann, gefällt mir als unbedarfter, treuherzig naiver Hjalmar Ekdal, ein ar­beitswilliger Fotograf, der redlichen Sin­nes dahinlebte, seine Familie hütete, von einer großen Erfindung träumte und der die plötzlich auf ihn einstürzende Wahr­heit nicht verkraften kann. Karina Fal­lenstein gibt seine Frau Gina als ein ge­nervtes Weib, das sich längst mit dem Schicksal abgefunden hat, die patriar­chalische Ehe hinnimmt und erleichtert scheint, als ihr Mann erst einmal durch­dreht. Hilmar Baumann ist ein mäßig schrulliger Opa Ekdal. Dieter Wien cha­rakterisiert einen eiskalten Kapitalisten Werle, Ruth Reinecke eine überkandidel­te Verlobte Sörby. Zu erwähnen noch Heinz Kloss als versoffener, lebensprak­tischer Arzt Relling.

 

 

 

Neues Deutschland, 12. Januar 1999