Diskussion im Künstlerclub „Die Möwe“

 

 

 

Theater erneut Nester des Widerstandes?

 

Das Erfreuliche: Junge Bürger stellen Forderungen. Auf einem öffentlichen Disput Berliner Theaterleiter im Künstlerclub „Die Möwe" war dies der Lichtblick angesichts allgemein konstatierter Theaterkrise. Aber es ist nicht in erster Linie die der Bühnenleute, es ist die der Gesellschaft.

Gebeten zum Thema „Kann die neue deutsche Hauptstadt eine europäische Theatermetropole werden?" erwarteten junge Besucher programmatische Ankündigungen. Aber die Leute vom Bau haben andere Sorgen. Thomas Langhoff vom Deutschen Theater brachte sie auf den Punkt: „Was sind wir überhaupt wert? Was haben Theaterleute für eine Funktion? Wie kann es passieren, daß wir einfach keine Stimme haben? Uns hört niemand an. Können wir unsere Stimme noch lauter machen? Wir haben täglich mit Dingen zu tun: Wie überlebt man überhaupt?"

Alexander Lang vom Schiller-Theater ergänzte, verwies auf den vom Senat diktierten rigorosen Personalabbau. Inzwischen gehe es pur um den Erhalt der Staatlichen Bühnen. Der Trend sei „die Kommerzialisierung der Theater. Und die Kommune zieht sich heraus."

Frank Castorf, der neue Chef der Volksbühne, trat die Flucht nach vorn an. Er nannte die Bühnenleute Privilegierte, polemisierte gegen das „Jammern", lobte den Etat von 22 Millionen und versprach, die Volksbühne zur „Widerspruchs-Insel" zu machen, zum „Widerstands-Nest", aus dem er „auf RTL schießen werde".

Solch löbliches Vorhaben befriedigte die jungen Zuhörer nicht. Sie sprachen die Verantwortung der „alten Herren" an, erinnerten an den „Bildungsauftrag des Theaters", den es zu erfüllen hätte. Die Jugend, erklärten sie, wolle durchaus nicht erzogen werden im Theater, wünsche sich jedoch Auseinandersetzungen mit Utopien. „Und welche?" tönte es zurück. Alexander Lang offenbarte sich: „Ich kann Lebenshilfe nicht geben. Ich sehe, es wiederholt sich etwas, von dem ich geglaubt habe, es würde nie wieder sein. Ich bin paralysiert. Ich bin auf der Suche. Mehr kann ich nicht sagen."

Womit die existentielle Krise der Theatermacher benannt war. Gewiß geht es nachdrücklich um Geld. Aber grundsätzlich geht es auch um Inhalte, um kritische Deutung der Gesellschaft von einem Standpunkt aus. Doch eben ein solcher, geschweige denn ein sicherer, ist derzeit nicht zu finden. Neue Dramatik avisiert ihn nicht. Und im allgemeinen sozialen Getriebe, so scheint es, ist derzeit keine verläßliche Kraft zu orten, die humanistische Aktion betreibt und auf die man glaubt, bauen zu können.

Bertolt Brecht setzte auf die Veränderbarkeit der Gesellschaft und den Anteil des Theaters daran. Er ist lange tot. Und sein berühmtes Ensemble, das mit eben diesem, zwar lädierten Markenzeichen in Berlin noch immer lebte, wird zerschlagen. Peter Sauerbaum, der geschäftsführende Kopf der neuen Theater-GmbH am Schiffbauerdamm, pries die Verfahrensweise, die Reduzierung des Ensembles und das geplante Spielen mit wechselnden Teams als „gemäßigtes Blocksystem". Was nichts anderes heißt, als daß das Ensemble nicht nur als historisch bewährtes Spiel-Prinzip, sondern auch realiter aufgegeben wird. Nun stand die Frage offenbar knallhart: Entweder Privatisierung des BE oder gar kein BE. So gesehen muß man den Herren Matthias Langhoff, Fritz Marquardt, Heiner Müller, Peter Palitzsch und Peter Zadek wahrscheinlich sogar dankbar sein, daß sie für einige Zeit honorig Sterbehilfe leisten.

Die „gemäßigten" Absichten der neuen Berliner Theater-GmbH wußte Ivan Nagel, unabhängiger Theaterprofessor der Hochschule der Künste, ansonsten geistiger Wegbereiter der Politik des Senats in der Berliner Theaterlandschaft, im Vergleich mit der Schaubühne denn auch warmherzig zu würdigen. Aufhorchen ließ, was er noch zu sagen hatte. Nachdem er eingangs die Unentschiedenheit des Senats und dessen sachunkundiges Dreinreden in Belange der Theaterleiter moderato moniert hatte, ließ er später, seiner eigentlichen Rolle gerecht werdend, die Katze aus dem Sack. Er skizzierte die völlige Überforderung des Senats, der bis zur Wende vier und dann plötzlich 19 Staatstheater am Halse hatte, und riet, „die riesige Anzahl von Staats-, Staats- und Staatstheatern" zu reduzieren, „die Theater, die man erhalten will, zureichend zu versorgen" und ihnen relative „Autonomie" zu gewähren. Das sei „das Vernünftigste, was man für die Theater machen könnte."

Welche Staatstheater aber sind erhaltenswert, sprich genehm, um Autonomie zu genießen? Die Antwort ließ der Vertreter des Senats, Staatssekretär Hermann Hildebrandt, durchblicken: Theater, die „gesamtstaatlicher Repräsentation" dienen. Dies jedenfalls wird das Kriterium sein, um in den mit Bonn auszuhandelnden Hauptstadt-Vertrag aufgenommen zu werden. Noch liegt kein Kabinettsbeschluß vor. Die Bundesregierung hat es nicht so eilig mit Berlin. Und schon gar nicht mit den Theatern. Was kümmert sie eine historisch gewachsene Theaterlandschaft, gar eine europäische Theatermetropole. Erst einmal muß die Szene bereinigt werden.

Das Theater im Palast ist liquidiert. Die Freie Volksbühne abgewickelt, das Berliner Ensemble privatisiert. Offenbar ließen sich diese linkslastigen Bühnen in die „gesamtstaatliche Repräsentation" nicht integrieren. Welches Theater wird noch ausgegrenzt werden? Man sollte genau auf die Erwägungen Ivan Nagels hören. Er dürfte die Absichten des Senats auszuplaudern haben.

Gnadenlos wird es die Theater treffen, deren Künstler sich nicht zu willfährigen Hofnarren machen lassen wollen. Die Zeichen sind schon gesetzt. Diesmal vom Innensenator. Albert Hetterle, der Intendant des Maxim Gorki Theaters, steht auf dessen Abschußliste. Ist er erst gegangen worden, wird die kleine Bühne am Festungsgraben als Staatstheater in Frage gestellt werden.

Noch spielen wichtige Bühnen. Ihnen obliegt, trotz politischer Einmischung in ihre künstlerische Arbeit, die Sehnsucht der Menschen nach Leben und Zukunft zu erörtern und dabei Idealismus tunlichst auszusparen. Es wäre verhängnisvoll, vor allem in Kommunikation mit der so gern gläubigen Jugend, Illusionen über diese national und sozial zerrissene Gesellschaft zu verbreiten. Schon erklang aus dem Kreis der jungen Zuhörer der Ruf nach dem starken Mann. Noch war der des Theaters, nicht einer der Politik gemeint. Aber das kann sich sehr schnell ändern.

Die Schwäche der Demokratie ist die Schwäche der Demokraten. Widerstand ist angesagt.

 

 

Neues Deutschland, 5. Oktober 1992