„Wessis in Weimar“ von Rolf Hochhuth, Uraufführung am Berliner Ensemble, Regie Einar Schleef

 

 

 

Religion statt Aufklärung

 

Unlängst servierte der Schweizer Christoph Marthaler in der Berliner Volksbühne mit herrlicher Ironie einen „patriotischen Abend" (Sie erinnern sich: „Murx, Murx..."). Jetzt offeriert der Deutsche Einar Schleef eine vaterländische Tortur. Er benutzt dazu Rolf Hochhuths Dialoge, Regie-Hinweise und Sach-Informationen aus dem Stück „Wessis in Weimar" sowie Texte Schillers, Goethes und Brechts und diverses deutsches Liedgut. Nach dem humorigen Gaudi aufs aktuelle Deutschtum nun ein bitter­böses hehres Ritual, abstrakt auf leerer Bühne zwischen einem blechernen Guckkasten-Rahmen arrangiert.

Meist brennt nur Arbeitslicht auf der Hinterbühne. Man hat Mühe, die nackten Weiblein und Männlein zu erkennen, die sich im Vordergrund mit chorischem Sprechgesang befleißigen, es ihrem Herrn und Meister recht zu machen, einem offenbar besessenen Dompteur. Selbstverständlich ist, wie zu erwarten war, alles neu und anders im Berliner Ensemble. Der sozial und historisch konkrete realistische „Mief" des Bertolt Brecht soll ja, wie der restaurierte Bürgergeist hartnäckig fordert, endlich und gründlich hinweggefegt werden. Da kommt es auf den 95. Geburtstag des Dichters wahrhaftig nicht an.

Also wirft Schleef seinen nackten Darstellern Armee-Mäntel über, drückt ihnen Knüppel und Äxte in die Hände und läßt sie marschieren. Weil das die Deutschen ja so gern tun. Und weil das - meint er offenbar - ganz elementares Theater ist. Die Damen und Herren brauchen beispielsweise ihre Mantel nur abzulegen, und schon schaut man deren entblößte Seelen. Denn wenn der Körper barfuß ist bis an den Hals, ist das auch die Seele. So berückend einfach ist Symbolik!

Zunächst, um korrekt zu sein, als Auftakt, werden Schillers Luise und Ferdinand bemüht. Sie, schwarz, rot, gold gewandet, neunfach besetzt; er; im Militär-Mantel, zwölffach. Um Limonade also geht es, chorisch gesprochen und ausführlich. Gemeint ist vermutlich der krasse soziale Unterschied zwischen diesen jungen Deutschen. Ein Motto wird vorgegeben, eine Analogie. Ferdinand, der edle Reiche, richtet sich zugrunde, weil er Luise besitzen will, die edle Arme. So in etwa.

Wahrscheinlich, weil dieser verschlüsselte Auftakt vom Regisseur als zu anstrengend für seine ahnungslosen Zuschauer empfunden wurde (ein Programmheft gibt es nicht), gönnt er ihnen bereits nach 20 Minuten eine Pause. Wackere Nachwuchskräfte des SV Blau Weiß Berolina Mitte 49 e.V. spielen auf der Bühne 15 Minuten lang munteren Fußball. Ich konnte mich wirklich entspannen. Das muß man auch. Denn nach dieser Pause gibt's keine mehr. Satte drei Stunden Aktion folgen.

Es kommt dicke. Vorerst ein Gag. Schleef läßt die Wessis unverdrossen im Kreise marschieren: vierzig Jahre lang auf dem Weg nach Weimar sozusagen. Ich hoffe, es richtig verstanden zu haben. Einige Zuschauer reagierten irritiert. Sie lachten und machten lustige Zurufe (ich sah die zweite Vorstellung). Wahrscheinlich verhielten sie sich genau so, wie der Regisseur sie provoziert wünschte.

Schließlich, nach 15 Runden etwa, sind die Wessis angekommen. Nun geht es um die „Ulbricht-Suite" im Hotel „Goethe" in Weimar. Der designierte neue West-Chef (bei Hochhuth der geschäftstüchtige Herr Drepper, der die Lage sondiert) schickt die bei Schleef im reichlichen Dutzend besetzte nackte Hotel-Beschließerin, mithin etwa zwölf wankende Gestalten, der Reihe nach mit zeremonieller Abspeisung, einer Bonbon-Verkostung vermutlich, durch das Souffleurkasten-Loch ab in den Keller. Dort im Untergrund singen die unverbesserlichen Ossis dumpf und trotzig Volkslieder. Oben würfeln die Wessis um die Entscheidung, in welche Partei sie eintreten, um ihre Hotel-Gaunerei politisch abzusichern.

Schon bis dahin ist klar: Hochhuth hat Figuren erfunden, Sprachröhren seines Zeitgeistes zwar, um über sie seine Polemik vorzutragen, aber eben immerhin konkrete Figuren. Schleef macht skandierende Figuranten daraus. Er kürzt und stellt Szenen des Autors rigoros um. Verbleibende Passagen gibt er als energiegeladene chorische Attacken, die oft exaktes Brüllen zum Gegenstand haben, statt Text-Inhalte. Man ahnt zwar immerzu, daß es irgendwie um große Beträge geht, aber die Sinn-Zusammenhänge werden hinter formalisierten Sprech-Rhythmen versteckt.

Gelegentlich ist ausreichend Licht auf der Bühne. Und gelegentlich gestattet sinnvolles Gliedern, Gedanken nachzuvollziehen. Etwa, wenn die FDP-Ministerin, eine schöne lebende Statue Justitia inmitten der Bühne, ihre Rechts-Verdreher-Suada zu den Mauergrundstücken in Berlin abläßt (bei Hochhuth exakt der Brieftext der Ministerin vom 8.10.1992 aus Bonn an die Interessengemeinschaft ehemaliger Grundstücksbesitzer auf dem Mauerstreifen Berlin e.V., zu Händen Herrn Wolf-Dietrich Golz, Kinzallee 3, O-1170 Berlin). Da steht tatsächlich eine einzelne Gestalt auf der Bühne, spricht konzentriert und kontert die verlogenen Auslassungen der Frau Minister auch gestisch.

Im wesentlichen arbeitet Schleef chorisch. Nur bei seinen Geschlechtsteil-Einlagen besinnt er sich auf einzelne Männer. Wenn er den Herrn Senatsrat (bei dessen Briefdiktat an Herrn Reuter, den Mercedes-Chef) an der Rampe niederhocken und frontal zum Publikum keuchend onanieren läßt, könnte man das gutwillig als eine bissig-scharfe Verurteilung dieses anbiederischen Berliner-Schloß-Befürworters ansehen. Mit Theater indessen hat das nichts zu tun. Mir scheint es eher eine Absage an dasselbe zu sein.

Schleef versucht szenische Steigerungen. Neun nackte Glatzköpfe (nein! halb Glatze, halb volles Haar!) rennen, mit Äxten bewaffnet, brüllend aufs Publikum zu. Dies dreimal, stets martialischer. Der Regisseur liebt es, die Massen aus dem Hintergrund der Bühne auf die Zuschauer losstürmen zu lassen. Immer und immer wieder pur provozierende Aggression. Welch begnadeter Einfall! Wenn er nicht schon beim zweiten Mal so langweilig wäre.

Schleef versucht chorische Steigerungen. Er stellt die Damen links in die Loge, die Herren rechts, in Gruppen also, obwohl bei Hochhuth in der Szene „Ossis: Diebe, Wessis: Hehler" einzelne Menschen agieren. Inmitten der Bühne allerdings eine Gestalt: der Herr Ministerialdirigent Dr. Schulze-Pforzheim in Offiziers-Uniform. Im zweiten Rang eine Sprecherin. Es geht irgendwie um alte und neue Jagdreviere in Thüringen, um Forschung, um Besitz und Enteignung. Aber wieder werden brisante Inhalte sprechchorisch verdonnert. Immerhin bleibt das als Regie-Kommentar benutzte „O Haupt voll Blut und Wunden, voll Spott und voller Hohn" aus Bachs Matthäus-Passion im Ohr. An seinem Symbol - Deutschland schon seit den Germanen (!) ein Hort des Schwestern- und des Bruderzwistes - hält der Regisseur ausdauernd fest. Er beschließt den Abend mit Heinrich Heines „Die alten, bösen Lieder" aus dem Lyrischen Intermezzo, vertont von Robert Schumann. Grimmig, brutalisiert, unversöhnlich gesungen.

Rolf Hochhuth ist das nicht. Dessen Grimm richtet sich nicht gegen die Deutschen allgemein, sondern prononciert gegen die bundesdeutsche Besatzer-Mafia. Der Autor hat mit der Gründlichkeit eines gewissenhaften Historikers und als ein Fanatiker der Wahrheit in markanten Szenen das ungeheure Unrecht dokumentiert, mit dem westdeutsche Eroberer über die ihres Volkseigentums beraubten, entwürdigten Mitteldeutschen herrschen. Lapidarer Ausspruch eines gekauften Bonner Ost-CDU-Ministers, eines ehemaligen „Blockfreundes": „...müssen wir uns gefallen lassen, daß die Vertreter von 60 Millionen Wessis über die Vertreter von 15 Millionen Ossis die Gewalt der Mehrheit als Recht deklarieren. Außer in einem von Feinden besetzten Land hat's das nie gegeben!" Doch wie die umstrittene Rohwedder-Szene hat Regisseur Schleef die deutsche Tragödie der Gegenwart in einer abstrakten deutschen Leidens-Passion aufgelöst. Religion statt politischer Aufklärung. Hochhuths Stück harrt der Uraufführung.

 

 

Neues Deutschland, 13./14. Februar 1993