Gedanken zum heutigen Welttheatertag

 

 

 

Aus der Pflicht entlassen?

 

In Jahren ärgster Herausforderung der Völker, als die Konfrontation der unterschiedlichen sozialen Systeme zwischen Ost und West vom Kalten zum Heißen Krieg zu eskalieren drohte, bekannten sich Theaterleute uneingeschränkt zum Frieden. Der vom Internationalen Theaterinstitut initiierte und seit 1962 jährlich begangene Welttheatertag gab Anregung, allen Bürgern, einflußreichen Politikern wie einflußlosen Zeitgenossen, eindringlich vom Zustand dieser Erde zu erzählen. Über trennende Ländergrenzen und weltanschauliche Schranken hinweg einte die Theaterleute diese ihre humanistische Mission.

Die globale Bedrohung ist aus der Welt, züngelt als „lokaler Konflikt" hier und da an den Grenzen Europas - und es scheint, als empfinden sich Dramatiker, Intendanten und Regisseure entlassen aus ihrer sie einst einigenden moralischen Pflicht. Nichts mehr, keine Idee mehr, die sie zusammenführt. Zumindest hier in Deutschland. Jeder kämpft für sich allein.

Um finanziell zu überleben und die zuständigen Geldgeber nicht zu verschrecken, kratzt man höchst vorsichtig an den Grundfesten des Kapitals und all derer, die dafür lügen, bomben, töten und ausbeuten. Wie im Fernsehen werden allzu oft im Grunde belanglose, nebensächliche Konflikte als wesentlich präsentiert. Das Interesse der Zuschauer wird nicht hingelenkt auf ständig sich abspielende gravierende gesellschaftliche Auseinandersetzungen, ihre Sinne werden nicht geschärft für die Hinterhältigkeiten moderner Machthaber. Gutbürgerliche Affirmation ist die Regel, plebejische Kritik die Ausnahme.

So dümpeln die Theater in die Bedeutungslosigkeit und an den Rand der Gesellschaft. Statt aufzufallen, Stoffe und Themen aufzugreifen, mit denen das Establishment aufgescheucht wird und die Bürger wachgerüttelt werden, so dass sich die Öffentlichkeit mit dem Theater einfach beschäftigen muß, stochert man im Kot und will den Zuschauern auch noch weismachen, eben das sei ergötzlich. Unbefriedigte Frauen auf der Suche nach dem Tier im Manne und als tragikomische Folge ehelicher Geschlechtsverkehr im Klo einer Raststätte - dies ist der jüngste ästhetische Gipfelpunkt. In Wahrheit ist's ein schrilles Zeichen für die Armseligkeit des zeitgenössischen Theaters. Es findet in der Gesellschaft keine Kräfte für produktive Lebensimpulse. Kleinbürgerliche Verklemmung lebt sich fröhlich aus. Und schon mehren sich Zeichen, daß in das ideologische Vakuum nationalistisches Gedankengut sickert.

Noch ist Zeit, sich neu auf überkommene humanistische Werte zu besinnen. Doch machen wir uns keine Illusionen. Um die Theater aus ihrem konformistischen Trott herauszureißen, hätte es einen Bertolt Brecht nötig, einen unerschrockenen, finanziell unabhängigen Dichter und Regisseur mit Herz für die ungeheuren sozialen Probleme des Landes, die offiziell nur zu gern unter alle Teppiche gekehrt werden. Ist scheißen und Sex auf der Toilette vielleicht doch die Inkarnation wahrer Kunst? Wenigstens am Welttheatertag sei über die derzeitige ästhetische Impotenz des deutschen Theaters laut nachgedacht.

 

Neues Deutschland, 27. März 1995