„Weihnachten bei Ivanovs“ von Aleksandr Vvedenskij im
Maxim Gorki Theater Berlin, Regie Tom Kühnel und Robert Schuster
Weihnachten findet statt
Kaum zehn Minuten lief die Premiere in der Studiobühne des Berliner Maxim Gorki Theaters, da empörte sich eine Zuschauerin über das rüde Gelächter eines jungen Mannes unter den Besuchern. In der Tat. Die Verrohung ist weit fortgeschritten. Wo einem das Lachen im Halse stecken bleiben sollte, wie hier bei Aleksandr Vvedenskijs absurder Komödie „Weihnachten bei Ivanovs", freuen sich diese und jene lauthals und sind verwundert, wenn neben ihnen jemand sitzt, der sich trotz barbarischer Zeiten eine sensible Seele bewahrt hat.
An der Interpretation, finde ich, hat es nicht gelegen.
Sie ist differenziert und ausgewogen. Die jungen Regisseure Tom Kühnel und
Robert Schuster haben in dieser Koproduktion mit der Hochschule für
Schauspielkunst „Ernst Busch" Berlin das surrealistische Geschehen so
zauberhaft kauzig-naiv etabliert, wie das die Absurditäten dieses Märchens erfordern.
Wobei eine besondere Wirkung von den Puppen der Abteilung Puppenspiel der Hochschule
ausgeht, die von Suse Wächter entworfen und von ihr sowie von Ingo Mewes und
Nicola Sczerspartowskij als einzigartige Originale gebaut wurden. Darsteller
und Puppen bieten präzis, die Komik gelegentlich veropert, den Irrsinn des
Daseins, festgehalten am Schicksal der Familie Puzyrjov just zum Weihnachtsfest.
Der Autor, 1904 in St. Petersburg geboren, Mitarbeiter sowjetischer
Kinderzeitschriften, im Dezember 1931 verhaftet, 1932 freigelassen, 1941 erneut
inhaftiert, während der Haft „geständig" als „Gegner der
Sowjetmacht", 1941 als Gefangener auf einem Transport verstorben,
Vvedenskij schrieb 1938 mit „Weihnachten bei Ivanovs" eine gallenbittere
Satire.
Obwohl die Amme (Winnie Böwe) ein Kind der Familie Puzyrjov ermordet
hat, nämlich das vorlaute zweiunddreißig-jährige Mädchen Sonja, und zwar durch
Trennung des Kopfes vom Rumpf mit dem Beil, feiern Mutter (Monika Hetterle) und
Vater Puzyrjov (Dieter Wien) mit ihren nun noch vier Kindern das
Weihnachtsfest. 0 Tannenbaum! Er wurde von Annas Freund Fjodor (Christian
Nickel) in eben dem Walde gefällt, wo seine Geliebte wenig später nach
Entscheidung des dritten Richters (zwei versterben vor der Verhandlung!) erhängt
wird. 0 Tannenbaum! Hell brennen seine Kerzen.
Doch Freude kommt nicht auf. Das jüngste Kind, der altkluge
einjährige Petja, noch eben knapp den Bissen der Hausdogge entkommen, stirbt während
des Festes - wie die übrigen Kinder, das Dienstmädchen, die Eltern und alle anderen
Personen noch. Tiere übernehmen die Macht! Der Autor läßt die unselige Menschheit
im Orkus versinken. Was freilich sein Irrtum war. Weihnachten findet statt! Immerzu
und immer noch. So viel Verbrechen sich auch begeben mögen, so viel strotzende
Naivität sich auch ausbreiten mag - am Tannenbaum kommt niemand vorbei!
Der herzige Irrsinn ist von Bühnenbildner Jan Pappelbaum
simultan auf fünf kleine Guckkästen verteilt, durchaus die TV-Sehgewohnheit
bedienend. Wie die Akteure - zu nennen noch die Puppenspieler Suse Wächter,
Christian Weise, Peter Lutz und Rainald Grebe - auf minimalstem Raum agieren,
ist frappierend. Wer Sinn hat für schwärzesten Humor - das neue Markenzeichen
der Gorkis? - sollte sich den ungewöhnlichen Abend leisten.
Neues
Deutschland, 16. / 17. Dezember 1995