„Die Weber“ von Gerhart Hauptmann an der
Volksbühne Berlin, Regie Frank Castorf
Zur Lage der Nation
Neulich beim Zappen durch die Fernseh-Ödnis
stieß ich auf Frank Castorf, der just erklärte, er sei ein »apolitischer
Mensch«. Schlauberger dieser! Zur Feier des fünften Jahres seiner erfolgreichen
Intendanz an der Berliner Volksbühne hat er sich Gerhart Hauptmanns »Weber«
hergenommen und dessen Figuren für ein brisantes Polit-Spektakel benutzt, wie
es Erwin Piscator kaum besser hätte hinkriegen können.
Der Dichter hatte sich seinerzeit gegen den
Vorwurf zu verteidigen, er habe mit seinem Drama eine »sozialdemokratische Parteischrift«
verfaßt, und beteuert, ihm sei es lediglich um einen Mitleidsappell an die Besitzenden
gegangen. Castorf appelliert an niemanden. Illusionslos will er aufklären, gut
verhüllte soziale Zusammenhänge und Mechanismen aufdecken. Dazu wuchtet er,
gewitzt und gewieft wie je, mit Hauptmanns Spielmaterial das ganze derzeitige
Dilemma deutscher Marktwirtschaft auf die Bühne. Das reicht für rund drei
Stunden extraordinäres kabarettistisches Trivial-Theater.
Castorf läßt allerhand weg vom Original
und fügt eigene Texte hinzu, auch höchst politische von Bertolt Brecht oder
Louis Fürnberg. Dazwischen dröhnen Musiken und Lieder von Bob Marley über Ernst
Busch bis Tito & Tarantula
für oder gegen die Vorgänge. Ein immer wieder ratternder Webstuhl (Bühnenbild
Bert Neumann) beherrscht das Zentrum des Geschehens. Die Weber, die Landeskinder,
sind luftig gekleidet. Die Mädchen sexy beinfrei, die Buben kurz behost.
Was die Truppe bietet, ist nicht immer schlüssig, leider oft unverständlich (wird bewußt bühnenschlesisch genuschelt?), manchmal schlecht ausgeleuchtet (hundert Neon-Röhren blenden fast ständig), enthüllt dennoch gnadenlos. Die Zwänge werden sichtbar, denen kapitalistische Produktion nach wie vor unterliegt, und die anhaltende Ohnmacht derer, die ihr ausgeliefert sind. Damals Fabrikant Dreißiger, als der mechanische Webstuhl die Handarbeit der schlesischen Weber aus dem Rennen warf, und die Hungernden ihre Wut gegen den Unternehmer richteten - heute Boß Dreißiger, der Billiglohnländer sucht und auf heimische Arbeiter pfeift, sie aber von ihrer sozialen Lage abzulenken versteht.
Beredte szenische Erfindungen. Fabrikant
Dreißiger (Henry Hübchen), zunächst gegen das Lied der Weber wetternd, bittet
die Hungernden zu sich aufs Kanapee. »Wir sitzen doch alle in einem Boot!«, sagt
er. Und sie kommen! Sie tanzen willig hinter ihm drein! Wenn Dreißiger der
Familie Baumert eine Reise nach Mallorca spendiert, ist alle Not vergessen. Daß
der alte Baumert (Jürgen Rothert) gute Speisung nicht mehr verträgt, ist sein
privater Notfall. Er sch... in seine schöne schwarz-rot-goldene Hose, und die
Familie verpaßt ihr Flugzeug. Mutter Baumert (Astrid Meyerfeldt) giftet, Sohn
Fritz (Milan Peschel) hetzt. Tochter Rosa (Kathrin Angerer) verkündet, nicht arbeiten,
sondern Karriere machen zu wollen. Was ihr gelingt. Als Frau Dreißiger führt
sie sich »ausbeuterischer« auf als ihr Mann. Doch wenn der über seine missliche
Lage grübelt, amüsiert sie sich im Kino.
So zerrinnt alle Revolution, bleibt selbst
die Rebellion ein Witz. Der rote Bäcker (Silvia Rieger) ist eine blonde kalte,
Moritz Jäger (Sophie Rois) eine schwarze bissige Hexe. Sie betreiben aufrührerische
Agitation mit Hingabe, aber alles läuft leer. Braucht nur ein »armer Hund« leibhaftig
über die Bühne zu streunen, schon sind die eben noch Widerstandswilligen
abgelenkt und rennen hinterher. Und gegen Fritte (Michael Klobe) und Würstchen
(Frank Büttner), bei Castorf die Repräsentanten der schlemmernden
Zwei-Drittel-Wohlstands-Gesellschaft, ist kein Kraut gewachsen. Die
Gewerkschaft, die Schmied Wittig (Gerd Preusche) unglücklich vertritt, hat
keine Chancen.
Wenn dem Castorf nichts mehr einfällt,
mögen Übelwollende behaupten, läßt er auf der Bühne bumsen. Immerhin: Das »Einmal-ist-keinmal«
der Frau Baumert mit dem Reisenden assoziiert die soziale Problematik
arbeitsloser Frauen. So zynisch ist er halt, der Hausherr. Seine intelligente
phantasievolle Aufführung, immer wieder pointiert im Detail, dynamisch und
dicht beginnend, verliert leider Drive und Konzept und endet mit mehreren
Schlüssen. Die ästhetische Crux: An einem Abend möcht' Castorf alles auf einmal
sagen zur Lage der Nation. Das schafft weder der Kanzler noch das Theater.
Neues
Deutschland, 9. Oktober 1997