„Wassa Shelesnowa“ von Maxim Gorki am Maxim Gorki Theater Berlin, Regie Rolf Winkelgrund

 

 

Wieviel Mütterlichkeit bleibt?

 

Für „Wassa Shelesnowa" von Maxim Gorki läßt sich Regisseur Rolf Winkelgrund Zeit. Am Berliner Maxim Gorki Theater, noch immer eine der besten Adressen in Deutschland für russische Dramatik, geht er die Buchfassung des Jahres 1910 moderato an. Keine treibende Theatralik, keine aufgedrückte Hektik, Menschenstudie.

Das Leben im Hause der Fabrikbesitzerin Shelesnowa, in dem der Hausherr im Sterben liegt, geht seinen üblichen Gang. Das Dasein in tiefer Provinz scheint zwar trist und langweilig, ist aber - dank des souveränen Regimentes der Herrin - in seinen Abhängigkeiten und Zwisten vermeintlich zum Wohle aller gut geregelt.

Ursula Werner, die die Titelgestalt spielt, stellt die unbedingte Autorität der Wassa deutlich auch äußerlich her. Aufrechter, breiter, fülliger Gang, die Körperlichkeit herrisch betont. Kräftig faßt sie zum Schopf des Widerparts, etwa bei Sohn Pavel oder beim Dienstmädchen Lipa, wenn sie sich behauptet. Diese Wassa genießt ihr Ansehen nicht so selbstverständlich, sie muß es immer wieder erstreiten. Und das macht sie unerbittlich.

Gorki hatte mit dem Untertitel „Eine Mutter" schon in der Urfassung auf den Widerspruch aufmerksam gemacht: Eine Mutter von drei Kindern zwar, zugleich aber die Firmenbesitzerin, die Ausbeuterin, die für die Kinder auch auf frevelhafte Weise Rubel rafft. Wieviel Menschlichkeit, wieviel Mütterlichkeit bleibt? Eine alte, anscheinend ewig aktuelle Frage.

Ein Vorzug der Inszenierung ist, daß sie im gestylten Besitzermilieu (Bühnenbild Achim Römer) erst einmal die „Normalität" vorführt. Streit flackert auf, Konflikte werden sichtbar. Prochor Shelesnow beispielsweise treibt es mit Pavels Frau. Wassas Hauptsorge, Onkel Prochor könnte seinen Anteil an der Firma zurückhaben wollen, bleibt noch Ahnung. Die Querelen sind Alltag, aufregend zwar, aber selbstverständlich. Und Winkelgrund versteht es auch, das Komische an diesen interfamiliären Rangeleien ins Spiel zu bringen.

Doch Wassa geraten die Familienbande aus der Hand, allmählich zunächst, überhaupt, als der alte Shelesnow gestorben ist. Kampf ums Erbe. Sohn Pavel (Nils Brück), der bucklige Hasser, den seine Frau Ljudmila (Gundula Köster) betrügt, will Geld, statt auf Wunsch der Mutter ins Kloster. Sohn Semjon (Ulrich Müller), der beleibte, gutmütige, schlurft selbstgefällig in Pantoffeln durchs Haus, vergöttert seine Natalja und denkt an Rubel, aber nicht an die Firma. Tochter Anna (Ruth Reinecke), die mondäne Offiziersgattin, reist an, demonstriert die souverän Außenstehende, mischt sich aber hinterhältig ein. Onkel Prochor (Hansjürgen Hürrig), der Firmenabtrünnige und Schürzenjäger, wird von Pavel provoziert und schlägt zurück. Natalja, Semjons Frau (Katka Kurze), die treuherzige, wahrheitsliebende, durchschaut die Intrigen, verliert die Nerven, stochert die Argumente mit steifem Finger gegen ihre Verwandtschaft. Dazwischen huscht und barmt die verstörte Dunjecka (Nicole Haase). Meist in eine Wandnische geduckt, wenn ihm nicht gerade Wassa ihre Hand besitzerisch auf die Hosenmitte drückt, räsoniert und laviert der untertänige Verwalter Michailow (Gottfried Richter).

Der gewöhnliche Kapitalismus. In seinen Auswüchsen schon im alten Rußland. Ver­brechen, Mord und Vertuschung.

 

 

Neues Deutschland, 28./29. November 1992