„Warten auf Godot“ von Samuel Beckett am Deutschen Theater Berlin, Regie
Jürgen Gosch
Melancholische Nabelschau
Das Spiel in zwei Akten „Warten auf Godot" hat den gebürtigen Iren
Samuel Beckett weltberühmt gemacht. Als es 1953 - ein Jahr nach der Uraufführung
am Theatre de Babylone in Paris - am Berliner Schloßpark-Theater inszeniert
wurde, war die Resonanz noch geteilt, schwankte zwischen Begeisterung und
Befremden. Worauf kommt es an? Auf den mysteriösen Godot, der nicht auftritt?
Oder auf die zwei Vagabunden, auf Wladimir und Estragon, die vergebens auf ihn
warten?
Heutzutage wird so neugierig kaum noch gefragt. Und Regisseur Jürgen Gosch,
der das Spiel jetzt am Deutschen Theater in Berlin herausbrachte, will Antwort
nicht geben. Er ist mit seiner zwischen Ernst und Komik werktreu ausgewogenen
Inszenierung sogar auffallend zurückhaltend, was irgendeine Deutung betreffen könnte.
Indessen hat derlei Bemühen - das ja Regisseure im Umgang mit Dramatik
gemeinhin nicht zu scheuen pflegen - bei klassischen Texten seinen ästhetischen
Reiz, just auch bei denen der Moderne.
Als Wolfgang Engel das Stück 1987 in Dresden vorstellte, besetzte er
jung, und die beiden Landstreicher hatten nicht nur deftig clowneske Züge, auch
allerhand jugendliche Unbekümmertheit. Es schien, als warteten zwei in
Arbeitslosigkeit Entlassene geduldig und ergeben auf einen Boß, der ihnen
möglicherweise einen Job verschaffen könnte. Als Siegfried Höchst das Stück 1988
an der Berliner Volksbühne inszenierte, machte er auf das Untätigsein der Wartenden
aufmerksam. Zwei Menschen „verspielten" so ahnungs- wie tatenlos ihre
Zeit. Das schien der hintersinnige wie frappierende philosophisch-kritische
Pfiff dieses der Commedia dell'arte entwachsenen Narrengaudis zu sein.
Nun bei Jürgen Gosch am DT Beckett sozusagen pur und in schöner
Ausführlichkeit. Das ist, wie sich ergibt, nicht nur possierlich, das ist auch
weitschweifig, das zieht sich hin. Trotz vier exzellenter Schauspieler. Peu à
peu verwickeln Jürgen Holtz, Christian Grashof, Eberhard Esche und Michael
Maertens den Zuschauer in die vertrackten existentiellen Lebenssituationen der
Beckettschen Figuren, sozusagen in deren archetypische menschliche Beziehungskisten.
Gegenseitige Abhängigkeiten. Freundschaft. Haß. Gewalt. Unterdrückung. Zerfall von
Macht über andere. Immer wieder sich aufbauende Hoffnung auf Hilfe von
irgendwem. Kampf gegen die Langeweile des Daseins. Koketterie mit Selbstmord.
Freude über drei grüne Blätter am kargen Baum des Frühlings. Die Akteure, von
Johannes Schütz jeweils mit Melone und schwarzem Anzug ausstaffiert, an Charlie
Chaplin erinnernd, bieten rundum eine melancholische Nabelschau des elenden
Homo sapiens.
Zunächst Estragon und Wladimir. Sie sind Vagabunden, gewiß, mit
Erinnerungen an die Weinlese im Breisgau und Sehnsucht nach dem Emsland, aber
sie sind bei Gosch vor allem armselige Käuze, arme Schlucker. Jürgen Holtz als
der vergeßliche, des Lernens nicht fähige Estragon stellt den Clown aus, den
verschlampten Plebejer. Er zieht in seiner Hilflosigkeit gern eine Flappe, die Mundwinkel
tief. Er latscht und trippelt griesgrämig, läßt sich kommandieren, stellt sich dumm
an, dabei witzboldig komisch. Christian Grashof als der immer wieder
nachdenkliche Wladimir bewegt sich tänzelnd, wie als sei er einst ein nobler Elegant
gewesen. Er hat seinen Haß auf den umständlichen, denkfaulen Kumpan. Aber
er braucht den Kameraden im Elend. So wie der andere ihn.
Eberhard Esche bietet Pozzo, den Mann der schwindenden Machtfülle, als
einen von Apathie heimgesuchten, aber das Leben clever absolvierenden Herrscher
mit Peitsche. Ihn amüsiert geradezu, was Lucky, sein Knecht, den er am Strick
mit sich schleppt, alles anstellt, damit er ihn behält. „Arbeitgeber" und.
„Arbeitnehmer" in inniger Verfremdung - und zugleich Macht und Geist in
sinnbildlicher Verstrickung. Wenn Michael Maertens als grauköpfiger
Intellektueller, von den Umständen kaputtgemacht, sein Statement gibt, sein
„Man weiß nicht warum" herausschreit, tief empfunden und Empfindungen
auslösend, fügt sich der Höhepunkt des Abends. Vor allem, als sich Estragon und
Wladimir als willige Spießgesellen Pozzos entpuppen und mit ihm erbarmungslos
auf Lucky einschlagen. So wird geistiger Anspruch auf dieser Welt zum Schweigen
gebracht.
Allein letztere, höchst kritische Botschaft rechtfertigt, das Stück in
den Spielplan zu nehmen - und bei der Gelegenheit mitzuteilen, daß Estragon und
Wladimir, diese unverhofft willfährigen Erfüllungsgehilfen eines Mächtigen, die
in krisenfreier Zeit umgänglich-friedliche Bürger zu sein pflegen, nach wie vor
auf Hilfe von unbekannt warten. Samuel Beckett, zeigt sich, der Schlauberger,
ist aktueller, als vermutet.
Neues Deutschland, 4./5. Mai
1996