„Wallenstein“ von Friedrich Schiller am
Deutschen Theater Berlin, Regie Friedo Solter
Realistische Charakterdeutung aus heutiger
Lebenserfahrung
Anregende, anrührende Verständigung mit einer Persönlichkeit der Geschichte bringen zwei Theaterabende am Deutschen Theater: „Wallenstein". Vermittelt wird diese so zeitnahe Begegnung mit dem Schillerschen Dramenhelden vor allem durch die Darstellung Eberhard Esches. Das beginnt mit dem Prolog. Esche spricht ihn als ein Schauspieler, als ein Bürger dieses Landes aus kluger, wissender Weltsicht und zieht sein Publikum freundlich-verschmitzt ins Vertrauen.
Vor rund fünf Jahren hatte das Schillersche
Geschichtsdrama in der Inszenierung von Friede Solter am Deutschen Theater
Berlin Premiere. Dann wurde das Haus rekonstruiert, und die Aufführung mußte in
die Magazine. Jetzt ist sie in neuem Glanz auf die Bühne des von Grund auf
erneuerten Hauses zurückgekehrt. Willkommene Gelegenheit und auch Verpflichtung,
sich mit dieser Maßstäbe setzenden Aufführung abermals zu befassen.
Glanz. Die Inszenierung verdankt ihn freilich
nicht Esche allein. Hier ist die Leistung eines großen Kollektivs zu loben. Das
beginnt bei der verantwortungsvollen Bearbeitung der Trilogie durch die
Dramaturgen Hans Nadolny und Helmut Rabe, die das Werk — ohne daß man Verluste beklagen
möchte — auf eine Zwei-Abende-Fassung gebracht haben, welche die Fabel prägnant
auf das „große politische Stück" (Brecht) komprimiert.
Das setzt sich fort beim Bühnenbild Lothar
Scharsichs. Er baute fabeldienliche Bilder, die in ihrer Einfachheit schön
sind, Gegensätze erzählen und zugleich Spielräume bieten. Im „Lager" zum
Beispiel konfrontiert er eine überdimensionale Waffenkammer mit einer großen
Orgel; in den „Piccolomini" gibt er dem Kampf des Vaters um den Sohn Max einen
weiten Sternenhimmel und einen großen Wegweiser in verwirrend viele Richtungen.
Oder nehmen wir die Kostüme Christine
Strombergs: Sie unterlag nicht der fatalen Mode, total zu enthistorisieren,
verwies andererseits unübersehbar auf den Militarismus unterschiedlicher Prägung,
bei den Mördern Wallensteins auf Züge der faschistischen Wehrmacht.
Beeindruckend schließlich die Musik Reiner
Bredemeyers. Trompetenstöße, Trommelwirbel erheben forsch und ungebrochen Anspruch;
verzerrte, abbrechende Töne signalisieren Resignation, auch Unrecht. Die
letzten Stunden Wallensteins begleitet die Musik ironisch, gaukelnd, Abstand
empfehlend.
Zum Ganzen aber fügen sich diese Leistungen
erst durch die Arbeit des Regisseurs. Friedo Solter stellt sich souverän in den
Dienst des Dichters, lotet in die Tiefen des Kunstwerkes, erhellt die geistige
Faszination dieses klassischen Meisters deutscher Dramatik. Schillers
Wallenstein-Porträt ist — wie wir auch bei Thomas Mann bestätigt finden — dem
historischen Vorbild nahe, ein Charakterbild, schwankend in der Geschichte.
Eben zu dieser geschichtlich getreuen und poetisch reizvollen Widersprüchlichkeit
wird das Publikum als Zeuge geladen.
Da ist also sehr wohl jener mächtige
kaiserliche Feldherr des Dreißigjährigen Krieges zu erkennen, der seine
eigennützigen Feudalinteressen verficht, zugleich nationale Souveränität für
Deutschland erstrebt, dies aber mit einer feudalen Söldnerarmee verwirklichen
will. Ein adliger Emporkömmling, der gegen das ewig Gestrige polemisiert und
doch vom Morgen nur vage Vorstellungen hat. Ein Mann, der des Schicksals
Gesetze kennen möchte und hofft, sie von den Sternen zu erfahren. Und letztlich
ist Wallenstein ein Politiker, der den Frieden sucht, ohne die sozialen
Probleme lösen zu können. Als er einen ersten Schritt dazu unternimmt und sich gegen
den Kaiser entscheidet, wird er ermordet. Von diesen Daten, Prozessen,
Widersprüchen nehmen Regisseure und Schauspieler nichts zurück, nutzen vielmehr
die Möglichkeiten sozial-realistischer Schauspielkunst, sie durchschaubar zu
machen.
Zunächst scheint es befremdlich, dann aber
frappiert es, wie Eberhard Esche diesen Wallenstein dem Publikum aus der überlegenen
Lebenshaltung eines Heutigen heiter-ironisch, selbstbewußt und unaufdringlich
vorstellt. Oder besser: entblättert, nach und nach entziffert. Immer ist da ein
vertrauensvoller Gestus zum Zuschauer: Bitte schau, was das für einer ist, wie
der verstrickt ist in die Wirren seiner Zeit.
Nur einmal identifiziert sich Esche
unmittelbar mit der Figur, nämlich, wenn der Feldherr um die Pappenheimer
ringt. Da bäumt sich dieser Wallenstein auf, öffnet das Herz und wird — im
Sinne seiner nationalen und friedlichen Absichten — programmatisch. Dort hat
die Inszenierung, ansonsten zurückhaltend mit Akzenten, ihr Zentrum, betont sie
nachdrücklich die Sehnsucht nach Frieden. Und assoziiert folgerichtig, wie schwer,
wie kompliziert der Kampf um ihn nach wie vor ist.
Wallenstein hat in Questenberg und in Wrangel
— beide in der Darstellung Klaus Pionteks — außerordentlich profilierte
Gegenspieler. Bestechend wie stets ist Pionteks Sprechkultur. Er gibt erhaben
die abgeklärte Selbstsicherheit und geistige Strenge dieser Abgesandten Österreichs
beziehungsweise Schwedens. Rolf Ludwigs Octavio Piccolomini ist von dumpfer, gleichsam
stetig grollender, nur gegenüber dem Sohn sich mildernder kaisertreuer
Besessenheit. Dieter Mann bringt einen eleganten Illo auf die Bühne, salopp und
doch wieder unbeherrscht aufbrausend, dann geradezu penibel distinguiert im Ränkespiel.
Fred Dürens Terzky wird zum beflissen-treuen Untergebenen, Volkmar Kleinert, ganz
ausgezeichnet, zum feig-großmäuligen Isolani. Hervorragend ist Otto Mellies. Er
übernahm die Rolle des verstorbenen Dieter Franke, spielt einen ganz aus
wägender Ruhe handelnden, gefährlichen Buttler.
Gereift in der Darstellung scheint mir Frank
Lienert als Max Piccolomini. Vielleicht nicht mehr so ganz jugendlich frisch
und unmittelbar, doch mit schöner, strömender Leidenschaft entwirft er das
humanistische Ideal dieses jungen Menschen. Überzeugend auch die Thekla von
Katrin Klein, ihre gefühlsverhaltene, unerschrockene, bekennende Liebe, die gängige
Konvention mißachtet. Scharfsinnig ist die still-charmante Gräfin Terzky Lissy
Tempelhofs, bieder mütterlich gibt Helga Labudda die Gemahlin Wallensteins.
Vorzüglich in weiteren Rollen unter anderen Martin Trettau (Seni), Gerhard Lau (Deveroux)
und Roman Kaminski (Macdonald).
Friedo Solter steht mit dieser
Schiller-Aneignung gültig in der Tradition von Max Reinhardt, Wolfgang Langhoff
und Wolfgang Heinz. Die Inszenierung atmet realistische Menschengestaltung,
geistige Klarheit der Vorgänge, Dynamik der Szene. Stets wird die stimmige
Geste zum Impuls für den Vers, und der Vers wirkt auf die Geste zurück;
erstaunlich, wie nahe dies Stanislawskis psychologischem Realismus kommt und wie
weit es doch auch über ihn hinausführt. Der Regisseur nutzt den sozial und
historisch konkreten Gestus im Sinne Brechts, wendet dezent dessen
Verfremdungseffekt an. So pflegt und entwickelt er die reiche sozialistische deutsche
Schauspielkunst und behauptet mit seiner im besten Sinne modernen Inszenierung
das Deutsche Theater Berlin nachdrücklich als eine führende Bühne unseres
Landes.
Neues
Deutschland, 13. Juli 1984