„Die Stunde da wir nichts voneinander wussten“
von Peter Handke in der Berliner Schaubühne, Regie Luc Bondy
Mal Schnaufen, mal Räuspern - aber kein Wort
Peter Handke, der 1942 in Kärnten geborene,
seit 1972 in Salzburg lebende Schriftsteller, hat die Sprache verloren. Bis auf
ein „Ja"! Das ruft ein ansonsten mühselig stammelnder alter Herr, ein Verkünder,
und löst allgemeine Fröhlichkeit aus. Auch beim Premierenpublikum in der Berliner
Schaubühne, wo Luc Bondy das Schauspiel „Die Stunde da wir nichts voneinander
wußten" in Szene setzte, ein originelles Stück, das Claus Peymann 1992 am
Wiener Burgtheater uraufführte.
Rund zwei Stunden bewegte sich das Ensemble
stumm auf einer sonnigen Promenade, einem idyllischen Fleckchen Erde (zuständig
für die Bühne: Gilles Aillaud). Mal ein Schnaufen, mal ein Räuspern, aber kein
Wort. Immer wieder andere Figuren. Sie scheinen vom Autor aufgelesen beim Bummel
über die Avenue des Champs-Elyses in Paris, über den Kurfürstendamm in Berlin,
die Ramblas in Barcelona, am Strand der Costa Daurada oder wo auch immer. Damit
nicht genug. Gestalten der biblischen Geschichte geben sich die Ehre. Tarzan
vom Werbefernsehen springt vom Seil. Ein Faun verspeist Grünzeug. Individuen
die Menge und Tiere auch geben sich ein phantastisches Stelldichein, hin- und
herlaufend wie magische Marionetten eines Perpetuum mobile.
Dabei gibt's immer wieder archetypische
Situationen. Frau verfolgt Mann. Mann verfolgt Frau. Mann und Frau begegnen
sich, mustern sich, gehen aneinander vorbei. Jemand wird geschlagen, jemand
wird bestohlen. Oft ist ein kleines Mißgeschick im Spiel. Eine junge Dame verliert
Utensilien aus ihrem Koffer, hebt sie auf, verliert sie erneut, hebt sie auf,
stürzt hin, schimpft, lacht. Ein Kanalarbeiter steigt aus einem Gully, prüft
mit Hilfe des Stadtplanes, wo er da eigentlich aufgetaucht ist. Ähnliche Mini-Sketche
noch und noch.
Auch tiefere Bedeutung: Ein Liebespaar mit vollem Einkaufswagen. Sie schwanger. Er sehr zärtlich. Langer Kuß. (Beider Baby wird später den Stammelnden zu seinem „Ja" stimulieren.) Sonst keine Liebe. Aber eine turbulente Hochzeit. Auch mal schnell eine wilde Kopulation. Feindseligkeiten. Zwei Bewaffnete schleifen einen Menschen quer. Aus einem Haus stürzen Soldaten mit Maschinenpistolen, sichern nach allen Seiten. Ein überfallener Einheimischer quält sich blutend über die Gartenmauer.
Und noch tiefere Bedeutung: Ein Plüschläufer
wird ausgerollt. Sagen wir mal bis hin ins Außerirdische. Am Rande bilden
Individuen erwartungsvoll Spalier. Dumpfe, ferne Schläge ertönen. Alle schrecken
auf. Irgendein Weltverhängnis bricht herein. Wirbel. Jammer. Schreie. Glocken.
Ehrfurcht. Verheißungsvolles Winken zweier Fabelgestalten. Sprachlosigkeit. Der
Verkünder (Kurt Radeke) stammelt. Jetzt die Mutter mit dem Neugeborenen. Jetzt
das schon zitierte „Ja". Freude. Doch erneut Wirren.
Denn die eigentliche Botschaft: Es bleibt
alles beim alten! Schwarzer Schnee fällt. Sturm und Grollen lösen eine Panik
aus. Schließlich erhellt sich die Szene. Und die Leut wandeln wie eh und je...
Peter Handke, vor allem durch seine „Sprechstücke" bekannt als ein
Literat, der mit Worten jongliert und dabei jeden einzelnen Begriff mehrmals
wendet, hat mit diesem seinem letzten Werk eine beredte Geschichte ohne Worte
vorgelegt. Er ist also nicht sprachlos. Freilich weiß er nur zu sagen, was eh
bekannt ist. Und er benutzt das Theater gewissermaßen als auslaufendes Modell.
Luc Bondy zeichnete jede einzelne Gestalt
liebevoll und mit überlegenem Humor. Der Abend ist eine virtuose, eine
minutiöse Leistung des Ensembles, der ganzen Truppe, einschließlich der
Schöpfer der Kostüme und der Masken.
Neues Deutschland, 7. Januar 1994