„Volksvernichtung“ von Werner Schwab an der Volksbühne Berlin, Regie Thomas Bischoff

 

 

 

Malaise satirisch offengelegt

 

Als Herbert Olschok 1992 auf der Probebühne des Berliner Ensembles Werner Schwabs Radikalkomö­die »Volksvernichtung oder Meine Leber ist sinnlos« vorstellte, schien der originell sprachtümelnde Text kaum mehr zu sein als eine gepfefferte sozialkritische Kla­motte. Jetzt hat Thomas Bischoff das Stück an der Berliner Volksbühne als gro­ßes politisches Theater offeriert.

Unter Verzicht auf naturalistische De­tails bedient der Regisseur mit einer phantasievoll inszenierten satirischen Ze­remonie den Lebensfrust des Autors, teilt und ironisiert zugleich dessen nur zu verständlichen Hass auf die erbärmliche Primitivität des Volkes. Er erhellt: Schwab ging es keineswegs um oberflächliche Ka­rikaturen scheußlicher Kleinbürger­monster, sondern um sezierende Analyse einer sozialen Malaise.

Zur Einstimmung aufs rituelle Spiel of­feriert Bischoff einen gemäßen Prolog. Im Gleichschritt marschieren Leute herein und beziehen diszipliniert Position. Aus einem Lautsprecher, den der Tod (Frank Büttner) unterm Arm hält, ertönen mar­tialische Propagandareden von Eisenhower und Truman. Nach dieser auf­munternden hochherrschaftlichen Be­schallung vollführen die Bürger tänze­risch beschwingt befremdliche Exerzitien. Einige riskieren eine Lippe und eine eige­ne Meinung. Die spätere Frau Grollfeuer tritt hervor und charakterisiert das illust­rierende Präludium arrogant mit »Didel dum dum!« Was aber auch heißen könnte: Damen und Herren im Parkett, nehmt lo­cker, was wir euch an diesem Abend an Unbotmäßigkeit komisch vorführen wer­den.

Denn wie auch immer, der früh verstor­bene österreichische Dichter-Berserker Werner Schwab (1958-1994) steht für fäkalische Unbekümmertheit. Mit »Präsi­dentinnen« (1990) hatte er gleichsam tief und ohne Bürste in die Klo-Schüssel gefasst, hatte bitter sarkastisch kleinbürger­lichen Mief angeprangert. Mit seiner »Volksvernichtung« (1991) schüttete er Hohn und Spott über Landsleute aus, die gemeinhin zum »Volk« gezählt werden und wegen ihrer politischen Ahnungslosigkeit anfällig sind für faschistoide Entwicklungen. Schwabs vernichtende Er­kenntnis: »Wenn das so genannte Volk oder der Pöbel Selbstbewusstsein be­kommt, dann geht es immer schief.«

Just diesen makabren Widerspruch legt Bischoff satirisch offen. Der Ort der Handlung - vorgegeben eigentlich diverse Wohnzimmer in einem Mietshaus - be­steht bei ihm aus zwei nackten, über Eck gestellten hohen Ziegelwänden (Bühne Uta Kala). Sie bilden einen Hinter- oder wohl eher Gefängnishof, Symbol für ein kaltes, menschenunfreundliches Gemeinwesen, ob Stadt oder Staat. Durch ei­ne kleine Tür erreichen die Bewohner den Raum, den die Hausbesitzerin Grollfeuer beherrscht, und in dem sich die Mieter frei wie Gefangene bewegen. All ihre Auf­müpfigkeit ist a priori leere Rhetorik.

Zumal sich das »Fußvolk« in der Regel erst einmal selber aufreibt. Wie in mani­scher Trance giften sich Pensionistin Wurm (Karin Neuhäuser) und ihr körper-behinderter, dreißigjähriger Sohn Herr­mann (Milan Peschel) hasserfüllt an. Er versucht zu malen, träumt von »Grazkunst«, die keine »Mausescheiße« sei, und greift vergeblich nach einer schönen Visi­on (Andrea Hovenbitzer). Die pabstgetreue, seelisch verkümmerte Mutter, ohne Sinn für die Ambitionen ihres Sohnes, kommandiert ihn in die Küche und an den Mülleimer. Obzwar sich die Regie Requi­siten versagt, auf den rituellen Gestus und Schwabs plastische Sprache setzt, wird die zerrüttete Beziehung der beiden genau gespielt. Karin Neuhäuser, leicht geduckt, droht mit spitzem Finger in die Luft, nestelt unbeholfen am Bund ihres Rockes - ein beklagenswertes Opfer spießbürger­licher Borniertheit. Und der Sohn - er lebt sichtlich auf, wenn ihn Frau Grollfeuer scheinheilig gönnerhaft auf die Stirn küsst. So ist das mit den Proleten. In Hinterzimmern mucken sie auf, in der Öffent­lichkeit hofieren sie ihren Unterdrückern.

Die Frau Grollfeuer ist in der souveränen Gestaltung von Jennifer Minetti, bis­her München, ein wahres Prachtexemplar einer herrschsüchtigen Hausbesitzerin. Bei Schwab eigentlich eine Trinkerin (»meine Leber ist sinnlos«), in Bischoffs Regie vor allem eine gefühlskalte Tyrannin wie Dürrenmatts Claire Zachanassian, die mörderische Multimillionärin. Wie sie selbstbewusst herrisch in ihrem Reiche schreitet, erinnert an Lagergewaltige unseligen Angedenkens. Diese dünkelhafte Professorenwitwe ist nicht nur gefährlich, weil sie das Volk hasst, sie ist es noch eher, weil sie zu wissen glaubt, wie mit ihm um­zugehen sei. Von Fall zu Fall nämlich sollte man die Untermenschen einfach ein biss­chen vernichten. Mit Krieg. Oder mit Gift. Je nachdem. Weil: Das Volk ist das Schlimmste, was es gibt!

So stirbt denn auch die polnischstäm­mige Familie Kovacic, Deutsch-Österrei­cher in zweiter Generation, aber nach wie vor als Ausländer empfunden. Vater (Hans-Werner Leupelt), Mutter (Susanne Sachße), Tochter Desiree (Sabine Fengler) und Tochter Bianca (Cordelia Wege), liebe, unbedarfte Zeitgenossen, typische Klein­bürger dieses Zeitalters sexueller Frei­heiten, kommen arglos zur Geburtstags-Jause der Frau Hausbesitzerin und müs­sen daran glauben. Wie der Tod mit ihnen umspringt, ist einer der glänzenden Regieeinfälle des Abends; dass die Grollfeuer ihn überlebt; gnadenlos realistisch... Viel und verdienter Beifall.

 

 

 

Neues Deutschland, 4. April 2000