„Ich bin das Volk“ von Franz Xaver Kroetz am Berliner Ensemble

 

 

 

...denn alles Fleisch ist wie Gras

 

Dem Franz Xaver Kroetz ist die Galle übergelau­fen. Als in Deutschland Asylantenheime brannten. „Das gesamte Klima", sagt er, „die Politiker, die Gerichte, die Berichterstattung in der Pres­se, dieser hilflos feige Staat - all das hat mich so wütend gemacht, daß ich diese Szenen hingefetzt habe." Unter dem Titel „Ich bin das Volk" schrieb er vierzig „volkstümliche" Sze­nen aus dem neuen Deutsch­land, eine Bestandsaufnahme, die gut und gern auch „Furcht und Elend des vierten Reiches" heißen könnte.

21 Szenen der Folge hatten jetzt am Schiffbauerdamm Pre­miere. Ohne Zweifel eine Aus­wahl, die, so unterschiedlich im einzelnen die Effizienz auch sein mag, insgesamt höchst brisantes politisches Theater ergibt. Dies für das Berliner linsemble vermelden zu kön­nen, stimmt froh. Eine junge Garde von Regisseuren - Elisabeth Gabriel, Bärbel Jaksch, Ulrike  Maack, Stephan Suschke, Holger Teschke und Stephan Wetzel – hat unter der Leitung von Peter Zadek mit gewiß wechselnder Präzision, so doch insgesamt engagiert dem Kroetz aus Bayern in Ber­lin Gehör und Aufmerksamkeit verschafft.

Das Volk, das deutsche, ist sozusagen wieder eine fatale Angelegenheit geworden. Was bisher gar nicht so auffiel, aber seit der Vereinigung einfach nicht mehr zu übersehen ist: Der Neofaschismus ist salon­fähig im Lande. Er hat sich inzwischen als alltäglich mehr oder weniger prononciert und durchaus toleriert fast überall eingenistet. In Amtsstuben. Bei der Polizei. Bei den Medien. Der Dichter liefert Anschau­ungsmaterial. Er brauchte nichts zu erfinden. Er brauchte nur gut zu beobachten.

In der Tat. Was ist das für ein Land? Wo die Polizei in ei­ne Kirche eindringt, um schutzsuchende Asylanten daraus zu vertreiben (Szene „Dachau Fantasie"). Wo die Po­lizei, wenn es um Marx ginge, ein Einsatzkommando schicken, wenn es um Hitler ginge, aber nur auf einer Anzeige be­stehen würde („Das Phan­tom"). Wo Oberstaatsanwalt, Ministerialdirektor und Ge­richtspräsident massiv auf den Richter einwirken („Justiz"). Wo ein Dichter linker Provenienz Vorsicht die Mutter der Porzellankiste sein läßt („Wenn der Hahn kräht"). Wo Mieter Wert darauf legen, nicht nur nicht neben Ausländern, son­dern auch nicht neben deut­schen Homosexuellen, Linken oder Bibelforschern zu woh­nen („Mieterschutz"). Wo ein leitender Angestellter der Rundfunkanstalt seine ihm Un­terstellten ideologisch vergat­tert („Ritter der Ausgewogen­heit"). Wo ein Studiendirektor eine Studienrätin rüffelt, weil sie ihre Schüler über den Ho­locaust informiert („Versöhnen durch Erinnern"). Es ist dies ein Land, in dem die Demo­kratie zum Aushängeschild verkommt.

Das Bestürzende: Kroetz, der bittergallige Satiriker, scheint gar nicht zu übertrei­ben. Die meisten seiner Szenen sind von verblüffender natura­listischer Substanz und Folgerichtigkeit. Einige sind von la­konischer Kürze. Etwa der Auftritt des deutschen Urlaubers (Hans-Peter Reinecke), der aus Israel zurückkehrt („Ziel"). Oder die Demonstration strotzender Borniertheit („Gröfaz"). Andere Szenen sind so scharf zugespitzt, daß eini­gen Zuschauern der Atem stockt, während andere sich la­chend abreagieren. Das betrifft vor allem das Finale, die Szene „Frontwechsel" (Regie Elisa­beth Gabriel).

Diese supergroteske Mi­schung von Dichtung und Wahrheit will geschrieben und gespielt sein! Ein Sohn (Georg Bonn), arbeitslos, eigentlich plausibel nach dem Sinn seines Lebens fragend, attackiert schon nicht mehr faschistoid, sondern offen faschistisch sei­nen Vater (Martin Seifert), ei­nen Genossen der SPD, so haß­erfüllt als Jude, daß der schließlich - weil er kein Jude ist und sein will! - auf seinen Sohn schießt. Der Vater mithin entpuppt sich als der aggressi­vere Deutschnationale. Was freilich die Mutter (Traute Hoess) noch zu überbieten ver­steht. In blutrünstiger Eman­zipation erschießt sie Gatten und Sohn, weil sie die militante Allmacht der Männer haßt. Da kippt der politische Anspruch plötzlich weg ins Gaudi, schlägt Kroetz nur noch wild um sich.

Die Bühne wird von Johan­nes Grützke fast pur genom­men. Bunte Hänger illustrieren. Ein attraktives Num­merngirl (Gaby Herz) zeigt stramme Beine. Man wird an Agitprop erinnert, an das ar­me, aber einfallsreiche Theater der Proletariats. Doch es geht nicht um Agitation. Es geht um Bloßstellung, um Desavouie­rung einer verlogenen Gesell­schaft. Und das Ensemble - aus welchem als hervorragend Veit Schubert, Hans Fleischmann, Martin Seifert, Urs Hefti, Hans-Peter Reinecke, Stefan Lisewski, Ruth Glöss und Chri­stine Gloger genannt seien - spielt engagiert und differen­ziert.

Dem Finale unterlegt Alex­ander Frey einen musikali­schen Kommentar, der für alle Szenen stehen könnte. Er zi­tiert aus Brahms' „Ein deut­sches Requiem" den weisen Satz der Bibel: „... denn alles Fleisch ist wie Gras".

Erschütterung über Ver­nichtung. Auch Trost?

 

 

Neues Deutschland, 23. Dezember 1994