“Der
blaue Vogel” von Maurice Maeterlinck am Deutschen Theater Berlin, Regie Thomas
Ostermeier
Arg ramponierte Romantik. Die Figuren abgerissen, halbnackt, notdürftig mit
Stützkorsetts und Beinschienen fürs Bühnenleben fit gemacht. Aber sie agieren!
Ihre skurrile Existenz belebt das alte Märchen »Der blaue Vogel« von Maurice
Maeterlinck (1862-1949) zu überraschend zauberhafter, lakonischer
Gegenwärtigkeit. Mit gnadenloser Verfremdung verhilft Regisseur Thomas
Ostermeier dem Top-Werk des symbolistisch-neoromantischen Theaters der
Jahrhundertwende zu einem Comeback am Deutschen Theater in Berlin, wo es 1912
- nach der Uraufführung 1908 durch Stanislawski am Moskauer Künstlertheater -
unter Max Reinhardt in deutscher Erstaufführung vorgestellt worden war.
Thomas Ostermeier führt mit seiner Arbeit vor, wie alle möglichen Ismen - Symbolismus, Romantizismus und insbesondere Ästhetizismus - auf der Bühne zu Erdhaftung gebracht werden können. Womit er nach seinen vielbeachteten Inszenierungen in der Baracke des Deutschen Theaters, die ihn zum künftigen künstlerischen Chef der Berliner Schaubühne avancieren ließen, zugleich klar macht, daß er nicht nur, wie mit dem britischen »Shoppen und Ficken«, brutal direktes Theater vorzuführen versteht. Auf großer Bühne entwirft er mit reicher Phantasie eine moderne Féerie.
15 alte
Stühle zieren die Rampe vor dem Vorhang, zwischen die sich brabbelnd Horst
Lebinsky mischt, in dem man in weißem Hemd und schwarzer Weste sofort den
Erzähler vermutet. Nach stummer Zwiesprache mit fiktiven Wesen auf den Stühlen
kramt er aus verschlissener Plastetüte einen uralten Folianten und beginnt zu
lesen. (Zwar war er sprecherisch zur Premiere leider wohl etwas indisponiert,
aber den Gestus des Erzählers traf er genau.) Während er bedächtig Maeterlincks
Regieanweisung vorträgt, die natürliche Opulenz des ersten Bühnenbildes (einer
Holzfällerhütte) beschreibt und die Figuren vorstellt, treten diese auf: Hund
(Nina Hoss) und Katze (Udo Kroschwald), Feuer (André Szymanski) und Wasser (Kay
Bartholomäus Schulze), Milch (Ronald Kukulies), Zucker (Falk Rockstroh) und
Brot (Thomas Bading) sowie das Licht (Bernd Stempel). Umwerfend bei diesem
Auftakt der horrende Widerspruch zwischen der liebevoll romantisierenden
Beschreibung des Erzählers und dem tatsächlichen Auftreten der ernüchternd
prosaisch ausstaffierten Figuren. A priori bleibt dem Zuschauer keine andere
Wahl, als seine eigene Phantasie anzukurbeln.
So provokativ
mobilisierend setzt sich das Spiel fort, zu dem Jörg Gollasch eine sensible,
einfühlsame Musik beisteuert. Nachdem die »orthopädisch« abgestützte Personnage
(Kostüme Rufus Didwiszus/ Bernd Skodzig) Platz genommen hat, erscheinen die
Kinder Mytyl (Anja-Marlene Korpiun), ein scheues Mädchen, und Tyl-tyl (Tilo
Werner), ein fröhlich unbekümmerter Bub, sowie die Fee (Gudrun Ritter),
eigentlich die Nachbarin. Sie verlangt von den Kindern ziemlich kategorisch,
ihr den blauen Vogel zu verschaffen, der angeblich ihre kranke Tochter gesund
machen könnte. Die Traumphantasie der Kinder bringt einiges durcheinander,
belebt Tiere und Gegenstände. Eine bizarre Truppe zieht los, den blauen Vogel
zu suchen, der freilich nirgends zu finden ist; weder im Land der Erinnerung,
im Palast der Nacht, im Wald, in den Gärten des Glücks oder im Reich der Zukunft.
Zwar ist eine
üppige Szenerie gefordert, doch gespielt wird ein armes Theater. Die
Ausstattung (Jan Pappelbaum) ist spartanisch wie bei Grotowski, hindert indessen
nicht das Verständnis. Ostermeier gelingt es, die vorwiegend darlegenden
Dialoge in beredtes szenisches Geschehen umzusetzen. Im Einsatz von Gesängen
knüpft er bei Christoph Marthaler an. Anrührende Harmonie beim »Ave, verum« von
Mozart (vom Ensemble subtil gesungen in der Einstudierung von Ute Falkenau),
wenn sich in den Glücksgärten die Mutterliebe (Gabriele Heinz) zunächst als
eine vergrämte Maria vorstellt, dann aber als Mutter der Kinder entpuppt. Bei
einigen Arrangements, bei Turbulenzen auf erhöhter, routierender Drehbühne,
wenn die Waldbäume sich wehren und wilde Tiere die Kinder überfallen, oder bei
der Orgie in den Glücksgärten scheint Frank Castorf Pate gestanden zu haben.
Das Bilder-Stellen erinnert an Einar Schleef.
Aber Thomas
Ostermeier - das gilt es festzuhalten - hat seine eigene Handschrift ironischer
Verfremdungen, geprägt von seinem ungebrochenen Realitätssinn. Sein
Protagonist Tilo Werner zum Beispiel, der bei ihm Brechts Galy Gay spielte,
zeigt den Bub Tyltyl mit natürlicher Geste, sprecherisch unaufwendig real. Es
fasziniert ohnehin ein äußerst produktiver Dualismus von nüchterner sprachlicher
Direktheit und fast einfältigem Märchenton. In dem rundum frappierend
unmittelbaren Spiel entfaltet sich - trotz einiger unnötiger Längen - eine frische,
aufgeklärte Romantik von heiterer Naivität.
Zwar läßt sich,
wie zu erwarten war, der blaue Vogel des Glücks und der Verheißung nirgends
finden, und Tyltyls Turteltaube, die schließlich und endlich dafür gehalten
wird, haut tragischerweise einfach ab, aber das überrascht uns nicht. Einmal
mehr wird uns auf dem Theater - wenn auch augenzwinkernd - bewußt gemacht, daß wir das
Leben hinnehmen sollten, wie es nun einmal ist... Anhaltender, herzlicher
Beifall.
Neues
Deutschland, 15. Januar 1999