„Die Vögel“ von Aristophanes an der Volksbühne Berlin, Regie Ernstgeorg Hering und Helmut Straßburger

 

 

Ausflug in ein antikes Wolkenkuckucksheim

 

An der Berliner Volksbühne haben Helmut Straßburger und Ernstgeorg Hering „Die Vögel" des 445 vor unserer Zeitrechnung geborenen griechischen Komödiendichters Aristophanes inszeniert. Vor allem dessen Stücke „Lysistrate" und „Frieden" werden bei uns viel gespielt, Stücke, mit denen sich der Athener streitbar für den Frieden engagierte. Auch für Demokratie nahm er immer wieder Partei, so mit seiner Komödie „Die Vögel".

Noch heute imponiert der Freimut, mit dem Aristophanes zu Werke ging. Das hat ihm allerhand Komplimente prominenter Nachfahren eingetragen. Goethe zum Beispiel nannte ihn einen „ungezogenen Liebling der Grazien". Hegel urteilte: „Ohne Aristophanes gelesen zu haben, läßt sich kaum wissen, wie dem Menschen sauwohl sein kann." Diesen Eindruck auf der Bühne herzustellen, ist allerdings nicht so einfach.

Was einst tagesaktuelle Anspielung und Polemik war, zündet heute nicht mehr. Gewiß ließen sich auf dem Programmzettel soziale Hintergründe des Stückes schildern. Doch können Informationen über die gesellschaftlichen Vorgänge zur Zeit von Aristophanes — zum Beispiel Denunziationen, Prozesse und Verfolgungen wegen der Verstümmelung von Hermesbüsten auf dem athenischen Markt — wirklich von großem Belang sein? Ich glaube nicht. Entscheidend bleibt das sinnlich Erlebbare, die Fabel. Und die schaut sich so an:

Zwei Städter, die ihr Geld nicht auf dem Gerichtshof „verprozessieren" wollen, verlassen ihre Vaterstadt mit der Absicht, sich irgendwo „weich und warm in der Wolle" seßhaft zu machen. Sie suchen Rat bei den Vögeln. Demagogisch überreden sie die Tiere, in den Lüften ein „Wölkenkuckucksheim" zu errichten, in dem sich der eine, Pisthetairos, prompt zum Tyrannen mausert. Er erklärt den Göttern den Krieg. Schließlich aber beugt er sich wieder dem allmächtigen Zeus, dem obersten Gott der Griechen und der Vögel, der ihm das Einlenken schmackhaft macht mittels einer Hochzeit mit Basileia, einer himmlisch Schönen. Mithin: Aristophanes warnte seine Landsleute vor der Tyrannis. Göttliche Alleinherrschaft schien ihm vergleichsweise weniger gefährlich.

Nun ist das so eine Sache mit der modischen Sitte, eine alte Fabel nach eigenem Zuschnitt zu lesen und aktuell aufzuputzen. Ernstgeorg Hering und Helmut Straßburger griffen selbst zur Feder. Gemeinsam mit Annegret Hahn nutzten sie, wie noch erkennbar, die Übersetzung von Ludwig Seeger. Sie strichen (zu Recht) erheblich, schrieben aber auch um und dazu. Dies nicht zum Vorteil, will mir scheinen. Die neue Fassung geriet weder bündig noch schlüssig.

Die Geschichte zerfällt in ein Stil- und Kostüm-Ragout. Allzusehr drängt sich das Bühnenbild vor (Zeus' gewaltigen Arm nehme ich gern aus). Der Chor der Vögel scheint aus einem anderen Stück. Da flattert, schnäbelt und girrt nicht eine aufgeschreckte Vogelschar, da tummelt sich eine Art Indianerstamm, der mit Feuerwasser kirre gemacht wird (darstellerisch und sprecherisch allerdings bemerkenswert frisch und agil die Puppenspiel-Studenten der Berliner Schauspiel-Hochschule) .

Die Charakterisierung des Pisthetairos verläppert sich. Friedrich-Wilhelm Junge ist nur einmal wundervoll komisch: bei den Flugversuchen. Ansonsten ähnelt er einmal einem kleinbürgerlichen Volksverführer, dann einem gemütlichen Onkel, und bisweilen ist er ein herrschender Schmerbauch von Zeus' Gnaden. Akzente, Zeichen werden zwar gesetzt, doch die Figur erschließt sich nicht.

Ich finde schon, daß diese drastische Komödie in die Volksbühne gehört. Da müßte es derb zugehen, lästerlich auch, bitte — doch nicht poesiearm. Das Stück hat, scheint es, einen Dichter nötig, der dem Jahrtausende alten genialen poetischen Wurf zeitgenössisch gewachsen ist.

 

 

Neues Deutschland, 4./5. Oktober 1986