„Der arme Vetter“ von Ernst Barlach am Berliner Ensemble, Regie Fritz Marquardt

 

 

 

 

Der arme Vetter in der Finsternis

 

Wie redselig doch ist dieser Ernst Barlach. Jedenfalls in seinem Schauspiel „Der arme Vetter" aus dem Jahre 1918. Und Fritz Marquardt fand am Berliner Ensemble weder den behutsamen Rotstift noch die offenbarende Regiehand, das poetische Geschwafel auf die möglicherweise gemeinte Symbolik hin einigermaßen zeitraffend zu inszenieren.

Ernst Barlach (1870-1938), der gottsuchende Mystiker, glaubte sich in der Lage eines Menschen, der um die Ecke sehen kann. Wo er eine verkommene bürgerliche Gesellschaft erblickte. Deren Dasein wollte er mit seiner Kunst nicht schmücken, schon gar nicht für die Börsianer. Unverdrossen suchte er einem höheren, gar dem eigentlichen Lebenssinn auf die Spur zu kommen. Mit seinen Bild- wie mit seinen Dichtwerken.

Nach einem Studienaufenthalt in Paris sagte er: „Wo ich früher zehn Linien gebraucht hatte, brauchte ich plötzlich nur drei. Es war wie ein Ruck." Solch Ruck ward ihm im Dramatischen nicht beschert. Da redete er sich weitschweifig an seine Erfindungen heran. Seine gesteigerte Einbildungskraft war verliebt ins Bildhafte. Er fabulierte eifrig gleichsam auf der Stelle.

Immerhin: Hans Iver, sein armer Vetter aus dem Jahre, in dem der erste Weltkrieg endete, ist einer, der mit der Welt und den Menschen, die sie bevölkern, nicht mehr zurecht kommt. Er will entfliehen. Durch Selbstmord. Hermann Beyer gibt einen scheuen, leicht verschrobenen, sich krampfhaft in seinen weiten Mantel hüllenden Armseligen, der sich sarkastisch bissig einigelt, wenn er redet.

Iver verfehlt seine Absicht, sich in den sandigen Heideniederungen der Oberelbe zu erschießen. Im Wirtshaus von Lüttenbargen, wohin man ihn gebracht hat, kommt er zu sich, fügt er sich in seine Lage. Er gaukelt Munterkeit vor. Die Einheimischen verhöhnen ihn. Die zufällig anwesenden Reisenden verstehen ihn nicht. Das vornehme Fräulein Isenbarn (Catherine Stoyan) allerdings wirft ein Auge auf ihn. Sie hat ein romantisches Faible für diesen Aussteiger, der sich von ihrem Verlobten, dem geschwätzigen jungen Siebenmark (Veit Schubert), nicht mit Geld ködern läßt, das der ihm in einer Anwandlung von menschenfreundlicher Verrücktheit aufzudrängen versucht.

Hans Iver scheidet doch noch und folgerichtig dahin. Ganz unheroisch in der Nacht. Und das verzückte Fräulein küßt den Toten, entscheidet sich für ihn. Ein Gleichnis, gewiß. Absage an den selbstzufriedenen Philister, den Geschäftsmann Siebenmark? Ohnmächtiges Bekenntnis zum am Leben verzweifelnden armen Vetter? Flucht des Fräuleins ins Kloster also?

Barlach wirft einen Figurenknäuel hin. Und Regie, Spieler und Zuschauer müssen sich mit den kauzig-phantastischen Gestalten herumschlagen. Hätte Fritz Marquardt Licht auf die Bühne gegeben, wie es sich auf dem Theater gehört, statt mit seinem Ausstatter Matthias Stein naturalistische Finsternis zu veranstalten, hätte sich vielleicht sogar ein aktuelles Verständnis für diesen geheimnisvollen Märchen-Spuk finden lassen. Denn die Schauspieler, zwar oft zu statuarischer Rhetorik veranlaßt und in allgemeine Melancholie gehüllt, entwickeln Sinn fürs Charakteristische. In weiteren Rollen: Dieter Knaup als nervöser Engholm, Stefan Lisewski als Schiffer Bolz und als Zollwächter Sieg, Christine Gloger als lüsterne Frau Keferstein.

Der Abend war lang, der Beifall müde.

 

 

 

Neues Deutschland, 4. Februar 1992