„Urfaust“ von Goethe am Theater Stralsund, Regie Fred Grasnick

 

 

 

Urfaust von Sinnen?

 

Auffallendes Gedränge an der Abendkasse des Theaters Stralsund. Anrechts- und sogenanntes „Lauf-Publikum", vorwiegend junge Zuschauer. Auf dem Spielplan steht Goethes „Urfaust", das Sturm-und-Drang-Drama des Dichters, in dem er Fausts ungestümes Erkenntnisstreben gegen mittelalterliche Scholastik setzte, vor allem aber dessen Drang nach Erfüllung in der Liebe ursprünglich modellierte.

Noch bevor das Spiel beginnt, erregt der Bühnenbildner Joachim Griep Phantasie, Neugier und vielleicht auch Vorbehalte seiner Zuschauer. Auf offener Bühne kein „hochgewölbtes enges gothisches Zimmer", sondern teils ein blau-grün gekachelter Operationssaal, teils eine mit verstaubten Büchern und Bürotisch markierte Studierstube. Links im Vordergrund auf einem Wagen ein halb verdeckter Leichnam. Zusammen mit den plastischen Reliefs im Hintergrund ergibt sich ein assoziationsreiches, die Vorgänge nahebringendes und auch praktikables Bühnenbild.

Faust kommt herein, hastet eine Trittleiter hoch, wirft hektisch und wahllos Bücher aus den Regalen. Ist er von Sinnen? Ist er im Fieber? Doch dann greift er einen Folianten und findet zur Handlung. Ralf Lehms Faust ist von gestischer und sprachlicher Strenge. Als in Liebesleidenschaft entbrennender Wissenschaftler bleibt er mir zu rhetorisch. Aber: Die jungen Zuschauer scheinen ihn in der Rolle des Liebhabers zu akzeptieren. Amüsiertes Mitgehen, wenn Faust hinter Margarethe einherspaziert, als sie die Wäscheleine abknüpft, und wenn er dabei verzückt gleich noch die Pfähle herauszieht.

Besonderen Anteil nimmt das Publikum am ewigen Streit der Antipoden Faust und Mephistopheles. Jörg Pose gibt den Teufel anfangs als einen fläzigen Kerl, dann wieder zeigt er sich in schäbiger Eleganz, ein aufdringlicher Herr, bemüht um Welt, von breitem Witz im Umgang mit Marthe (Juliane Theurer-Willert).

Während Faust und Mephistopheles mit einem gewissen theatralischen Aufwand agieren, spielt und spricht Margarethe unaufwendig, ganz unmittelbar und natürlich. Anke Salzmann ist ein jungfräulich-unschuldiges, scheu­naives Bürgerkind von anmutigem Reiz. Ihre hingebungsvolle Liebe hat aparte Sprödigkeit, ihr Wahnsinn Momente erwachenden fraulichen Selbstbewußtseins.

Fred Grasnick, aus Meiningen kommend, seit dieser Spielzeit in Stralsund, hat den poetisch kruden Wurf des jungen Goethe ungekünstelt und gradlinig inszeniert. Deutlich das Bemühen, beim Blick ins Mittelalter heutige Erfahrung mitspielen zu lassen. Der Zugriff der Reaktion erscheint nicht unabwendbar! Margarethes tragische Verstrickung von einst trifft auf die Erlebniswelt einer aufgeklärt-selbstbewußten Generation, die die Bedrängnisse sozialer Bigotterie nicht mehr am eigenen Leibe erfährt.

 

 

Neues Deutschland, 12. Dezember 1986