„Urfaust“ von Goethe am Berliner Ensemble,
Regie Horst Sagert
Undurchsichtiges Mysterium um Margarete
Reichlich finster auf der Bühne. Nacht immerzu. Aber Sternenhimmel. Horst Sagert inszenierte, dekorierte und kostümierte Goethes „Faust-Szenen" nach der Abschrift der Weimarer Hofdame der Herzogin-Mutter Anna Amalia, des Fräulein von Göchhausen (Urfaust). Er erfand dazu ein Vorspiel aus Auszügen von Goethes „Satyros oder Der vergötterte Waldteufel", „Prometheus" und „Pandora" sowie Klopstocks „Der Messias".
Wenn ich den bedeutungstiefen Suchbildern
einen szenischen Sinn abzugewinnen trachte: Hier wird mittelalterliche
Geisteswelt veranschaulicht, vor allem die Macht des Adramelechs, eines Höllenfürsten,
unter dessen Regime ein sich gequält reckender Esel ans Kreuz geschlagen wird.
(Nur in Klammern und gewissermaßen zögernd sei an dieser Stelle eingefügt:
Einst war da ein Stückeschreiber, Bertolt Brecht geheißen, der wünschte viel
Licht auf seiner Bühne, damit das Publikum nicht hineingesogen wird in den
schwarzen Kasten und rätseln muß, sondern mit Abstand erkennen und sich
vergnügen kann.)
Die im Vorspiel agierenden weißen und
schwarzen Engel entpuppen sich als clevere Dienerschaft des Mephistopheles. Sie
behalten diese Welt des Satans und des Todes fest im Griff. Mit geradezu
erlesenem Geschmack schurigeln sie Faust in der Nacht, daß er, malträtiert
darniederliegend, so gar keine Lust mehr hat auf die Welt, zumal ihm Wagner beflissen
ein überdimensionales Klistier in den Hintern reicht. Daß er unter solch
widrigen Umständen weder Erkenntnisdrang noch Wert und Kraft eigener Persönlichkeit
verströmen kann, sondern als gepeinigte Kreatur wie ein Esel schreit, ist
nachvollziehbar.
Wenn es ihm dann um Margarete geht, fährt er
dem Mephisto sogar energisch an den Kragen, einfach vitales männliches Verlangen,
agil auch im Zugriff auf Gretchen. Ansonsten bleibt er gebrochen, von geradezu
melancholischer Leidenschaftslosigkeit, selbst wenn er gegen Ende Mephisto
verständnisinnig küßt.
Lau und gemächlich insgesamt zieht sich das
Spiel hin. Viel naturalistischer Kleinkram, wundersame szenische Einfälle. Mephistopheles
zersägt ganz beiläufig mit rotierender Kreissäge ein wenig Gebein. Satans Engel
köpfen eine noch eben gebärende Sünderin, Blut verläßt den Rumpf. Tiefes
Mittelalter. Nicht zu übersehen. Trotz Dunkelheit. Die duftig
herausgeleuchteten Dekorationen, verspielt und ein wenig Nippes, aber auch
romantische Verklärung, der aufragende Dom im Hintergrund, die anheimelnd-gemütlichen
Bürgerhäuschen Margaretes und Marthes, bilden einen reizvollen Kontrast zur
mystischen Düsternis.
Womit zugleich sinnfällig gemacht wird, daß
poetische Gestalten agieren, Erfindungen also, einerseits des
wirklichkeitsfreudigen, drastischen jungen Goethe, andererseits des ihn
salbungsvoll ästhetisierenden Sagert. Reiner Bredemeyers Musik hält keck und
frisch dagegen. Den Faust spielt Hermann Beyer. Er spricht die Sätze nicht
direkt, er lauscht gleichsam immer in sie hinein, nervig, bedächtig,
zerbrechlich. Der Mephistopheles Arno Wyzniewskis ist von schneidender, eiskalt
herrschender Souveränität. Die Margarete von Corinna Harfouch, ein junges Weib
schon, gläubig, weil's Brauch, voll innerer Unruhe, sinnbetörend zart und
direkt, gesund, ursprünglich, Natur, Hoffnung.
Der Urfaust also als bombastisches, übertheatralisiertes
vierstündiges Mysterienspiel. Aber vielleicht habe ich das alles nicht richtig
gesehen. Ich saß weit weg. Und es war wirklich sehr finster.
Neues
Deutschland, 4. April 1984