„Troilus und Cressida“ von Shakespeare am
Berliner Ensemble, Regie Manfred Wekwerth und Joachim Tenschert
Dramatisches Plädoyer für den Sieg der
Vernunft
Zerbeulte Rüstungen, Helme. Kriegsmüll. Aus
dem Chaos des Schlachtfeldes vor Troja erhebt sich eine ramponierte Gestalt, den
Prolog zu sprechen: Thersites, der grimmige Schmäher des sinnlosen Gemetzels.
Ein Hundsfott und Lump in den Augen der griechischen Könige, in Wahrheit ein
Sprecher des Volkes — bei Shakespeare und in dieser Inszenierung seiner
„dunklen" Komödie „Troilus und Cressida" am Berliner Ensemble.
Ekkehard Schall spielt ihn, rauh, kräftig, messerscharf im Gedanken, höhnisch-ätzend mit jedem Wort. Sofort ist das wache, aufgeklärte Weltverständnis des heutigen Zuschauers angesprochen und bereit, dem archaischen Geschehen zu folgen. Dieser Thersites ist fast ein antiker Chorführer, ein Vermittler, ein gewitzter, gelegentlich kabarettistisch pointierender Kommentator. Er vermag auch jenem den Zugang zum Stück zu erschließen, dem die sagenhaften, dramatisch aufbereiteten Rankünen der Helden des Trojanischen Krieges so fremd wie fern vorkommen mögen.
Gleichsam mit Thersites' Hilfe lassen die
Regisseure Manfred Wekwerth und Joachim Tenschert hinter die pompöse Fassade
schauen, mit der die Könige ihren schmutzigen Krieg maskiert haben. Wir
erfahren, aus welch nichtigem, fast in Vergessenheit geratenem Anlaß seit
Jahren gekämpft wird, nämlich wegen Helena, die der Trojaner Paris dem Griechen
Menelaos geraubt hat. Worauf der beraubte König mit seinem Bruder Agamemnon und
einer riesigen Streitmacht vor Troja zog. Wir erfahren aber auch, daß sich Unmut
regt gegen diesen Krieg. Bei Troilus zum Beispiel, einem jungen Trojaner. Und
wir erleben schmerzhaft, wie die Insel der Liebe, auf die er sich mit Cressida
zurückzieht, wo sich beide für eine märchenhafte Nacht vereinen, schon am
Morgen von den Wogen der widerstreitenden Kriegsinteressen hinweggespült wird.
Ein weit gefächertes Assoziationsfeld
eröffnet sich, dank vor allem der Neuübersetzung von Manfred Wekwerth. Mit
theatralischem Instinkt bedient er das Original und zugleich heutiges
Sprachempfinden und rückt so diese alte Geschichte in unsere Zeit. Obendrein
scheinen die Sätze und Repliken den Schauspielern auf den Leib geschrieben. Man
hört und spürt, daß sie sie auskosten; was ihnen und uns gut tut, auch, wenn
sich darüber hier und da Längen ins Spiel schleichen.
Die Ausführlichkeit ergötzt auch deswegen,
weil die Regisseure mit bewundernswertem Geschick auf dem schmalen Grat
wandeln, der sich zwischen einer dezenten Heroisierung der Helden und ihrer
behutsam-sarkastischen Parodierung findet. Sie entsprechen damit dem Dichter vorzüglich.
Als Shakespeare um 1602 dieses Stück vorlegte, sah er bereits die Brüche in der
festgefügten Rangordnung des englischen Tudor-Absolutismus. Noch eben hatte er
königliche Machtstreitigkeiten in ihrer historischen Würde und Progressivität gestaltet,
nun kritisierte er sie. Mit Spott stieß er die homerischen Helden von ihrem
mythischen Sockel und zielte auf jene unter seinen Zeitgenossen, die begannen,
sich an überholte mittelalterliche Ehrbegriffe zu klammern.
Diese tiefgründige, travestierende Komik
Shakespeares aufzuspüren und aus unserer Sicht zu akzentuieren ist hinreißend trocken,
ist souverän gelungen — weder laut noch lärmend, weder aufdringlich noch
gewollt, sondern kristallklar und von geistiger Leuchtkraft. Eine
selbstbewußte, moderne Aufführung, abhold modernistischen Kinkerlitzchen, ganz
in der sozialistischrealistischen Tradition des Hauses.
Manfred Grund schuf ein zurückhaltendes,
dennoch einprägsames Bühnenbild. Ein bühnenbreites weißes Tuch vor dunklem Hintergrund
— mal weites Portal, mal steiles Kriegszelt — erlaubt mannigfache szenische Verwandlungen.
Die Kostüme Klaus Noacks geben sich zeitlos.
Es spielt ein ausgezeichnetes Ensemble.
Stellvertretend seien genannt: Dieter Knaup als entnervt-fahriger Agamemnon,
Peter Bause als aufgeblasener, krankhaft-stolzer Achilles, Stefan Lisewski als
eitler Paris, Hermann Beyer als beredter, verschmitzt-hinterihältiger Ulysses,
Hans-Peter Reinecke als klotzig-selbstsicherer Hektor.
Corinna Harfouch gibt die Cressida als ein
zungenfertiges junges Mädchen, das die Kuppelei ihres Onkels — für .Arno
Wyzniewski eine mit Szenenapplaus bedachte Paraderolle — wiederholt
zurückweist. Doch zu ihrer Liebe bekennt sie sich, zaudert nicht, .sie nun auch
ganz zu erfahren. In Corinna Harfouchs Darstellung vereinen sich der Schmelz
beseligender junger Liebe und die spröde Abgründigkeit weiblicher Raffinesse.
Troilus, dieser des Krieges überdrüssige,
heißspornige Jüngling, hat da von vornherein einen schweren Stand. Martin
Seifert gibt ihn als ein Bündel aus Übermut und Zaudern, ehrlich und offen in
der ersten, phantastischen Liebeswerbung seines Lebens, ein kleiner Feigling danach,
der seine Geliebte fast ohne Widerrede den Griechen ausliefert.
Es gehört zur Regieleistung des Abends, daß
dennoch kein Pessimismus aufkommt. Tragik und Komik durchdringen sich ständig. Erschütternd
die Mahnrufe der Kassandra (Renate Richter), die in ihrer ungeheuren
Vernünftigkeit dem Thersites ebenbürtig ist. Mit dem Liebespaar, vor allem aber
mit Thersites, Kassandra und auch mit Pandarus setzte der große Brite auf die
Kraft und den Sieg der Vernunft. Er verstand es, sein Publikum letztlich heiter
gestimmt zu entlassen. Worin ihm das Berliner Ensemble nicht nachsteht.
Neues
Deutschland, 19. Juni 1985