„Die Lissabonner Traviata“ von Terrence McNally am Renaissance-Theater Berlin, Regie Fred Berndt

 

 

 

Griff ins volle Menschenleben

 

 

Er war 15 Jahre alt und Abräumer in der Robin-Hood-Cafeteria in Corpus Christi, Texas; sie war die Königin der Mailänder Scala. Und er dachte, sie sänge nur für ihn, für Terrence McNally, den Schüler, der Tische abräumte, um sich Opernplatten kaufen zu können. Seine leidenschaftliche Bewunderung für Maria Callas hat er sich bewahrt, und 1985, als schon arrivierter amerikanischer Dramatiker, hat er ein Stück daraus gemacht. Er nannte es »Die Lissabonner Traviata«, obwohl noch gar keine Aufnahme dieser Aufführung im Handel war.

Wenn jetzt im Berliner Renaissance-Theater zum Auftakt der deutschsprachigen Erstaufführung des McNally-Stückes die Stimme der Callas erklingt, fürchtet man für einen Moment, das Sprechtheater werde dem ästhetischen Niveau, das hier vorgegeben wird, nicht gewachsen sein. Aber der Autor überzeugt. Er brilliert als Menschen- und als Opernkenner. Das Extraordinäre seines Einfalls: Mendy und Stephen, seine Helden, die der Callas quasi absolut zu Füßen liegen, sind schwul.

Eine tragikomische »Beziehungskiste« zwischen Männern läuft ab, dramaturgisch gekonnt, dialogisch gewitzt, spielerisch zügig und durchweg glaubwürdig. Leidenschaft, die zugleich Flucht ist aus dem ordinären Alltag in eine reine Opernwelt. Die zwei befreundeten Intellektuellen, schon leicht betagte Herren, suchen ihre Lebens-Erfüllung in der Kunst, weil sie sie in idealisierter homoerotischer Liebe letztlich nicht finden. Jedenfalls muß das Stephen erfahren, der gutsituierte Verlagslektor, dessen langjähriger Partner Mike, ein junger Arzt, eines Tages einen aparten Jüngling mit in die Wohnung bringt und nicht, wie gelegentlich sonst, nur mal einen Seitensprung absolviert, sondern fortan mit seiner neuen Liebe auch leben will.

Das gibt es also noch in der zeitgenössischen Dramatik: den tiefen, den realistischen Griff ins volle Menschenleben. Existentieller Anspruch - der tragisch endet, wie könnte es anders sein; der aber immerhin erhoben wird, so komisch das anmuten mag.

Fred Berndts differenzierter Regie und versierten Darstellern ist ein bewegender Abend zu danken. Wie hochsensibel können schwule Männer sein, wie kindisch aber auch, wie hilflos in ihrem Kampf gegen Einsamkeit, wie gehässig gegenüber dem Freund, wie unbedingt in ihrem Glauben an ihre Art zu lieben. Um so amüsanter, wenn sie ausgerechnet eine Sängerin geradezu kultisch vergöttern. In der Wohnung Stephens prangt ein großes Porträt der Callas, und Mendy sinkt kreuzschlagend fast in die Knie, wenn er dort vorbeigeht. Der Regisseur zeigt Männer und deren homosexuelles Verhalten als ganz selbstverständlich, nur gelegentlich fein ironisiert.

So ist das Vergnügen ungeteilt. Jörg Holm, Gast vom Thalia Theater Hamburg, auch gesanglich opulent, gibt einen wunderbar trocken-schlagfertigen Mendy, der zugleich kindlich-verspielt versessen darauf sein kann, just an diesem Abend die Lissabonner Traviata zu hören. Gerd Wameling, bis 1992 fest an der Berliner Schaubühne, zeigt facettenreich einen zunächst selbstsicheren Stephen, völlig eins mit Kunst und Leben, dann unvermutet verunsichert, schließlich verzweifelt und zunehmend kläglich um die Gunst seines Partners buhlend, bis er durchdreht. Eine meisterliche darstellerische Gratwanderung zwischen mannhaftem Stolz und weibischer Wehleidigkeit. Im Kontrast dazu die jungen Männer, gar nicht auf Kunst fixiert, sondern pur auf sexuelle Befriedigung: Arzt Mike (Stefan Reck) und Paul (Thomas Fritz Jung), der neue Partner.

 

 

 

Neues Deutschland, 14. Oktober 1998